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Glasperlen für Eingeborene

Oder: Welche Ziele verfolgt das neue Föderale Zielprogramm?

Nebulös, unpräzise und ohne Langzeitkonzept - das Föderale Zielprogramm für die Deutschen in Russland könnte sich dereinst als Potemkinsches Dorf entpuppen. Diese Ansicht vertritt Viktor Krieger im ORNIS-Kommentar. Seine Hauptkritik: Das Programm ist kein Beitrag zur vollständigen Rehabilitierung der Russlanddeutschen. Was meinen die ORNIS-Leser dazu? Schicken Sie Ihre Meinung und nehmen Sie an der Debatte um Pro und Contra Föderales Zielprogramm teil!

Von Viktor Krieger

Am 3. September 2007 hat die russische Regierung das föderale Programm für die „Entwicklung des sozioökonomischen und ethno-kulturellen Potentials der Russlanddeutschen“ bestätigt. Für die Laufzeit von 2008 bis 2012 sind umgerechnet etwas mehr als 80 Millionen Euro vorgesehen, die zum größten Teil aus dem föderalen Haushalt bereitgestellt werden sollen.

Für uns als Betroffene lautet die wichtigste Frage: Ist dieses Programm ein, wie auch immer gearteter, Schritt in Richtung der vollständigen Rehabilitierung unserer Volksgruppe, der Beseitigung der Folgen jahrzehntelanger Unterdrückung, Verleumdungen und Benachteiligungen? Die Antwort lautet leider: nein.

Obwohl in den ersten Zeilen dieses Dokuments erwähnt wird, dass sich die Autoren bei der Ausarbeitung u.a. auf das Gesetz „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker“ stützten, wird man vergeblich nach der Finanzierung eines Mahnmals für die Opfer der Deportationen, eines nationalen Museums und Dokumentationszentrums oder eines akademischen Instituts zur Erforschung und Pflege des historischen und kulturellen Erbes der russlanddeutschen Minderheit suchen. Dagegen sind Hunderte von Millionen Rubel für Wohnungs- und Krankenhausbau in den Landkreisen Asowo und Halbstadt, oder für Kläranlagen und eine Kanalisation im Dorf Johannesfeld, Gebiet Samara, eingeplant.

Nichts gegen solche und ähnliche Vorhaben - das wird den Ortseinwohnern bestimmt zugute kommen. Aber wozu müssen derartige banale Bauobjekte unter dem Mäntelchen eines „deutschen Programms“ präsentiert werden? Damit die „unterentwickelten“ Dörfler die väterliche Fürsorge des gütigen russischen Staates schätzen lernen? Dies entspricht durchaus der erklärten Absicht, die Deutschen in der ihnen seit 1941 zugewiesenen Rolle eines ewigen Kolchosnik weiterhin verbleiben zu lassen. Wie könnte folgende Feststellung auf Seite 10 des Dokuments anders verstanden werden, in der es heißt, dass „die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung auf dem Lande lebt“ und sie deshalb vor allem Förderung für eine „verstärkte Entwicklung der Viehzucht“ erhalten sollen? Obwohl nach der Volkszählung 2002 von den 597 212 in Russland registrierten Deutschen 339 288 oder 56% bereits in Städten leben.

"Unausgesprochenes Hauptziel
ist das Festschreiben
der Ergebnisse der Deportation."

Überhaupt fehlt im Programm eine sichtbare intellektuelle und kulturelle Komponente, außer solchen nebulösen Floskeln wie etwa eine „Erhaltung und Entwicklung der geistigen und national-kulturellen Traditionen“ oder eine „informationsanalytische Unterstützung von Projekten der Entwicklung des ethno-kulturellen Potentials“. Aber der letzte Zensus zeigte erneut, dass der gegenwärtige Bildungsstand der deutschen Minderheit (103 Akademiker auf 1.000 Personen im Alter von 15 Jahren und älter) noch wesentlich unter dem Landesdurchschnitt (157) liegt, was eine unmittelbare Folge der direkten und indirekten Diskriminierungen ist. Jedoch fehlen hierzu langfristige Maßnahmen über eine dauerhafte Förderung der Fach- und Hochschulbildung der deutschen Minderheit, wie zum Beispiel die Gründung einer Stiftung, die zielgerecht Stipendien zum Studium im In- und Ausland vergeben könnte.

Kein einziges Wort wird über eine Nationaluniversität mit russischer und deutscher Unterrichtssprache, über eine Förderung der zweisprachigen Gymnasien in den Städten, über das Aufbauen einer nationalen Bibliothek, eines professionellen Theaters, eines Fernsehsenders, einer Nationalgalerie und dergleichen Institutionen verloren; eine Selbstverständlichkeit bei jedem anderen russländischen Volk. Welche dauerhafte Perspektive bietet dieses Programm tausenden Studenten, jungen Wissenschaftlern und hochqualifizierten Fachleuten? Bereits 2002 gab es in Russland 12.900 deutsche Hochschulabsolventen allein im Alter von 20 bis 29 Jahren. Sollen sie sich im Landkreis Halbstadt um eine Anstellung in mobilen Schlachthöfen oder Schweinestallungen bemühen?

Eines der unausgesprochenen Hauptziele dieses Programms ist das Festschreiben der Ergebnisse der Deportation. Fast auf jeder Seite wird betont: „Wiedergeburt der traditionellen Siedlungsgebiete der Russlanddeutschen“; unter solchen verstehen die Verfasser des Dokuments konsequenterweise Westsibirien, aber auch einige Ortschaften in den Gebieten Samara und Uljanowsk. Ist es etwa ein Geheimnis, dass der „traditionellste und kompakteste“ Siedlungsraum um Saratow, entlang der Wolga liegt, wo die deutsche Minderheit seit 1764 bis 1941 oder mehr als 175 Jahren ansässig war?

Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden insgesamt 862 504 Deutsche auf dem Territorium der damaligen RSFSR gezählt (Stand 1939), wovon 433 406 oder 50,3% in der ASSR der Wolgadeutschen, aber auch in den angrenzenden Gebieten Saratow und Stalingrad (Wolgograd) gelebt haben. Anfang des 20. Jahrhunderts existierten in den wolgadeutschen Kolonien ca. 300 evangelisch-lutherische und katholische Kirchen. Heutzutage sind davon nicht mehr als 15 geblieben, die dem Verfall und Vandalismus preisgegeben sind. Aber für ihren Erhalt ist keine müde Kopeke im Programm vorgesehen.

Viktor Krieger

Würde Russlands politische Klasse eine ehrliche Absicht hegen, ihre ehemals sowjet-deutschen Bürger für ihren Staat zu gewinnen, dann stünde der Wiederherstellung der nationalen Autonomie derzeit nichts im Wege, um so mehr, als die Goldreserven des Staates zum 1. Mai 2007 eine astronomische Summe von 369 Milliarden US-Dollar erreicht haben. Schon rund 1,5 Milliarden Dollar – auf etwa 10 Jahre verteilt – würde ein Rücksiedlungsprogramm an die Wolga für Zehntausende ermöglichen, Grundversorgung dieses Territoriums mit technischer und soziokultureller Infrastruktur gewährleisten. Diese Summe entspricht übrigens dem Anteil der Deutschen von 0,4 Prozent an der Gesamtbevölkerung des Landes.

In der heutigen Russischen Föderation bildet letztendlich nur die Wiederherstellung der territorialen Autonomie eine sichere Grundlage für die faktische Gleichberechtigung der Russlanddeutschen mit anderen Völkern. Sie wird Wind aus germanophoben Vorurteilen und noch weit verbreiteten Verdächtigungen nehmen, rechtliche Voraussetzungen für die politische Interessenvertretung auf der föderalen und lokalen Machtebene schaffen, verlässliche Rahmenbedingungen für langfristige Finanzierung solcher soziokultureller Institutionen wie eine nationale Universität, pädagogische und technische Fach- und Hochschulen, Forschungsinstitute der Akademie der Wissenschaft, Museen, Verlage, Zeitschriften- und Zeitungen usw. schaffen; erst dadurch wird die intellektuelle Weiterentwicklung der nationalen Intelligenz ermöglicht. Die Steuereinnahmen der Deutschen autonomen Republik – ähnlich wie es heute in den Kalmückischen, Ossetischen oder Burjatischen Republiken der Fall ist – würden ohne Umwege direkt zur Finanzierung der sozial-kulturellen Entwicklung der Bevölkerung ausgegeben.

Aber wozu diese wilden Phantasien!? Eine Wirkungslosigkeit und leere Kassen kennzeichneten ehedem das vorangegangene, ähnlich großmäulig angekündigte Programm für die Jahre 1997-2006. So konnte zum Beispiel die russische Seite 2004 umgerechnet 400.000 (!) Euro nicht aufbringen, um ein neues Gebäude für eine dringend nötige Erweiterung des ehemaligen Zentralarchivs der Wolgadeutschen Republik in Engels zu bauen. Diesen Betrag stellte schließlich die deutsche Bundesregierung zur Verfügung. Vieles deutet darauf hin, dass sich das versprochene Finanzvolumen von über 80 Millionen Euro in der Realität ebenfalls als ordinäres Potemkinsches Dorf entpuppt.

Dr. Viktor Krieger (geb. 1959 in Dschambul/Kasachstan)
ist Lehrbeauftragter am Seminar für Osteuropäische Geschichte
an der Universität Heidelberg. Der Wissenschaftler beschäftigt
sich seit den achtziger Jahren mit der Politik-, Wirtschafts-
und Kulturgeschichte der Deutschen in Russland. Seit 1991
lebt er in Deutschland. (mehr zur Person)

 
Ihre Meinung

Martin, 24.11.2007 12:57:51:

@ Ex-Russlandeutscher: Beziehungen zwischen Menschen verschiedener Herkunft muss nicht bedeuten, dass einer der beiden seine Identität zurücksteckt. Liebe heisst beide Seiten leben lassen und pflegen.

Karl, 23.11.2007 18:29:04:

Nebulös, unpräzise und ohne Langzeitkonzept - das Föderale Zielprogramm für die Deutschen in Russland

Aktueller Russlanddeutscher, 23.11.2007 15:18:49:

Ich finde den Artikel von Herrn Krieger kritisch aber gut. Es ist längst Zeit, dass man sich der deutschen Minderheit in Russland annimmt, und zwar ehrlich, ohne unterschwellige Doppelstandards.

Sabrina, 22.11.2007 21:47:21:

Ich denke, diese Tendenz, die Russlanddeutschen \"tot zu schreiben\" ist (wie im Kommentar von \"Ex-Russlanddeutscher\" bemerkbar) vorhanden. Das ist wohl der Wunsch so mancher. Beschämend ist das.

Ex-Russlanddeutscher, 19.11.2007 23:11:29:

[quote] Würde Russlands politische Klasse eine ehrliche Absicht hegen, ihre ehemals sowjet-deutschen Bürger für ihren Staat zu gewinnen, dann stünde der Wiederherstellung der nationalen Autonomie derzeit nichts im Wege, um so mehr, als die Goldreserven des Staates zum 1. Mai 2007 eine astronomische Summe von 369 Milliarden US-Dollar erreicht haben. Schon rund 1,5 Milliarden Dollar – auf etwa 10 Jahre verteilt – würde ein Rücksiedlungsprogramm an die Wolga für Zehntausende ermöglichen, Grundversorgung dieses Territoriums mit technischer und soziokultureller Infrastruktur gewährleisten. Diese Summe entspricht übrigens dem Anteil der Deutschen von 0,4 Prozent an der Gesamtbevölkerung des Landes. [/quote] Gibt es in Russland noch Deutsche? Ich dachte, dass alle Russlanddeutschen bereits bis 1995 nach Deutschland kamen. Die letzten Aussiedler, die ende der 90er kamen, waren alles andere, als Deutsche. Normalerweise ziehen die Leute dorthin, wo es Arbeit gibt, und das ist oft sogar mit der Ausreise ins Ausland verbunden. Künstliche Widerherstellung einer ethnischen territorialen Autonomie zwecks einer gezielten Umsiedlung von Leuten mit bestimmten ethnischen Merkmalen wäre ein einmaliger Präzedenzfall in der modernen Weltgeschichte. [quote] Die Steuereinnahmen der Deutschen autonomen Republik – ähnlich wie es heute in den Kalmückischen, Ossetischen oder Burjatischen Republiken der Fall ist – würden ohne Umwege direkt zur Finanzierung der sozial-kulturellen Entwicklung der Bevölkerung ausgegeben.. [/quote] Im Unterschied zu den Deutschen aus Russland, gibt es dort wirklich klardefinierbare einheimische Völker, wie Kalmycken, Osseten und Burjaten, die keine Möglichkeit haben, in ihre Heimat zurückzukehren, wie es die meisten Deutschen aus Russland bereits getan haben. Die meisten Russlanddeutschen zahlen ihre Steuer dem deutschen Staat und dürfen in der deutschen Kultur leben. Ich bezweifle, dass diejenigen Nachkommen der Russlanddeutschen, die immer noch in Russland leben, eine Umsiedlung an die Wolga und eine Abkapselung von den übrigen Russen wünschen, da sie meistens aus internationalen Ehen stammen schon völlig Russifiziert sind. Noch ein paar Fragen an den Autor: 1) Würde er mit seiner Familie Deutschland verlassen und sich an der Wolga ansiedeln, Falls der Russische Staat wirklich in dieses Projekt investieren würde? 2) Gibt es gewählte Repräsentanten der Russlanddeutschen, die an die Wolga ziehen möchten, oder geht es nur um Ideen bestimmter Akademiker?

Sabrina, 28.10.2007 19:04:13:

Ich kann den Kommentar von Dr. Krieger sehr gut nachvollziehen. Ich denke, dass alle Minderheiten Russlands, ohne Unterschiede zu machen, die Förderung ihrer Kultur \"verdienen\". Auch ist die Geschichte der Russlanddeutschen, und anderer Bevölkerungsgruppen, tragisch und man sollte das jetzt nicht quasi im Nachhinein legitimieren oder gar dem Verfall von Kulturgütern weiter einfach zusehen. Die Idee eines Programmes ist sehr gut, aber der genaue Wortlaut ist wie gesagt keine wirkliche Unterstützung der bedrohten Kultur dieser Menschen. Das finde ich ernüchternd und es zeigt, dass noch viel Aufklärung von Nöten ist.

Onkel Karl, 28.10.2007 15:57:54:

Herr Krieger, Aus ihrem sehr treffendem Artikel entstand eine Diskussion zwischen den Russlanddeutschen und den Nachkommen der Schwonders und Scharikows. http://foren.germany.ru/discus/f/9280406.html?Cat=&page=0&view=collapsed&sb=5

Heinrich, 23.10.2007 20:21:44:

Doktor Krieger, Vielen Dank für Ihre Arbeit über die Geschichte der Russlanddeutschen

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des Föderalen Zielprogramms
„Entwicklung des sozial-ökonomischen
und ethno-kulturellen Potentials
der Russlanddeutschen
in den Jahren 2008 – 2012“

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