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Ende eines Dauerkonflikts?

Noch spricht die russlanddeutsche Minderheit nicht mit einer Stimme

Viele Jahre lang waren die beiden wichtigsten Organisationen der Russlanddeutschen in herzlicher Feindschaft verbunden. Seit April ist alles einfacher geworden. Jetzt zieht der Vorsitzende des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur am gleichen Strang wie der Präsident der Föderalen Nationalen Kulturautonomie der Russlanddeutschen.

Von Eugen N. Miller*

Wer hätte 1994, vor dem Hintergrund der Massenauswanderung von Russlanddeutschen, die längst nicht mehr daran glauben wollten, dass der Staat ihnen ihre Autonomie zurückgeben wird, und angesichts langsam einschlafender russlanddeutscher Organisationen gedacht, dass es ganze drei Jahre später eine völlig neue Struktur, die Föderale Kulturautonomie der Russlanddeutschen (FNKA), angeführt von Wladimir Bauer, geben würde, die lautstark auf sich aufmerksam machen und die Daheimgebliebenen zu neuen Ideen und neuen Zielen inspirieren würde?

Wer hätte damals gedacht, dass der noch recht unbekannte Heinrich Martens, der in der „Wiedergeburt“-Gesellschaft mit solchen, wie viele damals meinten, Nebenaufgaben, wie der Organisation von Seminaren, Beratungen und Kulturveranstaltungen, befasst war, ein Jahrzehnt später die wichtigste politische Figur der Russlanddeutschen sein und die Russlanddeutschen sowohl gegenüber Russland als auch Deutschland vertreten würde?

[…] Wer hätte gedacht, dass Professor Viktor Baumgärtner, ein Moskauer Großunternehmer und Politiker, dem es einst gelang, den Konflikt zwischen der FNKA und der Assoziation „Sodruschestwo“ [dt. Gemeinschaft] beizulegen und beide sogar zu einem Block zu vereinen, nicht nur den Kampf gegen den Internationalen Verband der deutschen Kultur (IVDK) um Gewicht und Einfluss verlieren, sondern sogar seinen Posten als Präsident der FNKA einbüßen würde? […]

Heinrich Martens und der von ihm gegründete IVDK fanden immer mehr Anhänger im ganzen Land. […] Sein Erfolg gründet sich bis heute auch darauf, dass beide Seiten, Deutschland und Russland, die nach wie vor jährlich Millionen Rubel und Euro für die Förderung der Kultur der Deutschen in Russland ausgeben, daran interessiert sind, Probleme aus ihren bilateralen Beziehungen, also auch Probleme mit den Russlanddeutschen, möglichst herauszuhalten. […]

Die Russlanddeutschen, die auf eine ganz besondere Weise Träger zweier Sprachen und Kulturen sind, werden immer noch von vielen als eine besondere Brücke zwischen den Kulturen angesehen.

Viktor F. Baumgärtner
Die Forderung der FNKA nach Wiederherstellung der „historischen Gerechtigkeit“ und der deutschen Autonomie an der Wolga passte da nicht ins Konzept. Deshalb konnten wir in den vergangenen Jahren beobachten, dass die FNKA unter Führung von Viktor Baumgärtner, der versucht hatte, über die Staatsduma einen Gesetzentwurf zur vollständigen Rehabilitierung der Russlanddeutschen auf den Weg zu bringen, nicht nur Niederlage auf Niederlage einstecken musste, sondern auch keinerlei staatliche Finanzierungshilfe bekam.

Zur selben Zeit konnte der IVDK unter Heinrich Martens in der staatlich geförderten „Moskauer Deutschen Zeitung“ aktiv, laut und vernehmbar für jedes regionale oder internationale Projekt Werbung betreiben. Ganz allmählich wechselte Heinrich Martens in die Politik und verkündete, die Russlanddeutschen müssten vor allem kulturell gefördert werden. Die Forderungen nach der schrittweisen Wiederherstellung der Wolgarepublik seien veraltet und unnütz und müssten zurückgenommen werden. […]

Der Kampf der FNKA für die vollständige Rehabilitierung der Russlanddeutschen mag aus historischer Sicht bedeutender sein als alle noch so großen Projekte des IVDK. Aber die Menschen brauchen nicht nur ein Ziel in der lichten Zukunft, sondern auch die täglichen, praktischen Ergebnisse. Davon hatte die FNKA zu wenig aufzuweisen. […]

So war die FNKA – ganz im Gegensatz zum IVDK Heinrich Martensʼ, der sich in seiner aktiven und rührigen Art auf Fachleute stützte, die mit deutschen und russischen Haushaltmitteln bezahlt wurden, Projekte in hoher Qualität durchführten und Mittel fristgerecht abrechneten - immer mehr zum Hobby einer recht kleinen Gruppe geworden.

Heinrich Martens

Und wie das überall in der Politik so ist, liefen einige der regionalen Führungskräfte der Kulturautonomien im Laufe der Zeit über und wechselten des schnellen Vorteils wegen aus dem Lager der FNKA ins Lager des IVDK. Aber die Zahl der Anhänger Baumgärtners und Martensʼ hielt sich die Waage. Daher konnten die Russlanddeutschen auch lange nicht das tun, wozu sie sowohl von russischer als auch von deutscher Seite immer aufgefordert worden waren: sich zu einigen und mit einer Stimme zu sprechen.

Die weiteren Ereignisse sind bekannt. Da es nicht möglich war, der FNKA von außen beizukommen, versuchte Martens es von innen. Er versammelte seine Anhänger und Baumgärtners Opponenten aus den regionalen Kulturautonomien, organisierte einen Kongress und ließ sich zum neuen Präsidenten wählen. Die Rechtmäßigkeit wurde unverzüglich vom Justizministerium anerkannt, und auch die deutsche Seite schickte recht bald ihre Glückwünsche zur Wahl.

Außerdem hat der IVDK unter Martens seit diesem Jahr noch weitere Vollmachten erlangt. Über das Netz der überregionalen Koordinierungszentren hat er einen Teil der Aufgaben der GTZ und die Verfügungsgewalt über die Verteilung der finanziellen Mittel übernommen.

Wozu hat sich Heinrich Martens all die neuen Probleme, die zusätzliche Belastung und den neuen Posten aufgehalst und sich damit dem Licht ständiger Kritik durch die Opposition ausgesetzt? Bis dahin waren der IVDK und Martens kaum von großer Kritik betroffen. Seine Projektarbeit hat er gut gemacht. Das wurde von Freund und Feind anerkannt. Jetzt hat sich die Situation geändert.

Auf den ersten Blick hat sich die Situation deutlich verbessert, und alle Seiten, Deutschland, Russland und die Russlanddeutschen selbst, sollten zufrieden sein: Die Feindschaft zwischen FNKA und IVDK ist aufgehoben, die „unbequemen“ Forderungen eines Teils der Russlanddeutschen sind vom Tisch, die Entwicklung kultureller Projekte für die Russlanddeutschen hat einen deutlichen Schub bekommen. Die Verteilung der finanziellen Mittel erfolgt jetzt direkt über die Russlanddeutschen vor Ort: durch den Mechanismus der Koordinierungszentren, der allerdings noch auf beiden Beinen etwas „hinkt“.

Allerdings sind die Russlanddeutschen, die nicht die Politik von Heinrich Martens vertreten, nicht einfach verschwunden. Die Feindschaft zwischen IVDK und FNKA hat natürlich allen Seiten geschadet. Die gibt es nun nicht mehr. Auch eine starke Opposition gibt es nicht.

Werden die Anhänger Baumgärtners ihren Kampf als Opposition in der erneuerten FNKA fortsetzen und werden sie nach anderen Organisationsformen suchen? Werden vielleicht bei den nächsten Wahlen einige oppositionelle Führungskräfte in den regionalen Kulturautonomien gegen junge und aufstrebende Anhänger des neuen Präsidenten der FNKA ausgetauscht?

Wir wissen es nicht. Vielleicht verläuft ja auch alles völlig ruhig, demokratisch und kultiviert. Und es wird ein großes Netz von Kultur- und Bildungszentren der Russlanddeutschen geben, die Projektanträge stellen und aus dem Staatshaushalt finanziert werden. Und vielleicht werden sogar alle irgendwann zufrieden sein. Wir werden es sehen.

(stark gekürzte Fassung; lesen Sie die Langfassung hier)


Quelle: Е.Е. Миллер Чем закончился конфликт ФНКА и МСНК,
E. E. Miller: „Cem zakoncilsja konflikt FNKA i MSNK“,
http://www.rundschau.mv.ru/situation-rus.htm, 25. August 2009;
Übersetzung: Norbert Krallemann

* Der Autor, geboren am 25. Oktober 1929 in Engels an der Unteren Wolga, war Professor am Lehrstuhl für Fremdsprachen an der Pädagogischen Hochschule Uljanowsk und ist Chefredakteur der deutschen Zeitung "Rundschau". Der Träger des Bundesverdienstkreuz’ begleitet seit langem die Geschehnisse im russlanddeutschen Organisationswesen.

 
Links zum Thema
- Miller, Eugen - Ende eines Dauerkonflikts? (Langfassung)
 
Mehr zum Thema bei ORNIS
- Ein Kongress, der keiner war
 
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