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„Zweifel, dass wir die Arbeit beenden können“

Anton Bosch zu den Vorwürfen gegen Michail Suprun
„Zweifel, dass wir die Arbeit beenden können“ Mahnmal für die Opfer der Repression in Archangelsk

Der russische Geheimdienst FSB hat den Fall des Geschichtsprofessors Michail Suprun an die Petersburger Staatsanwaltschaft abgegeben. Sein Forschungsprojekt zur Geschichte der nach Archangelsk deportierten Russlanddeutschen ist weiterhin massiv gefährdet. Paul Lies sprach für die Deutsch-Russische Zeitung (DRZ) mit dem deutschen Projektberater Dr. Anton Bosch vom Historischen Forschungsverein der Deutschen aus Russland.

DRZ: Sie arbeiten seit einiger Zeit mit Professor Michail Suprun zusammen. Wie ist es zu dieser Zusammenarbeit gekommen?

Anton Bosch: Die Geschichte der Deutschen in Archangelsk reicht weit zurück. Es gab dort schon vor der Revolution deutsche Kaufleute und Unternehmer, eine evangelische Kirche und auch einen ‚Lutheranischen Friedhof‘. 2004 hat unser Forschungsverein zusammen mit dem Deutsch-Russischen Haus in Archangelsk eine Gedenkstätte auf diesem Friedhof eröffnet.

Das Projekt fand sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den Politikern und in den Medien eine positive Resonanz. Nach diesem Erfolg haben wir eine Jugendgruppe zu den Kulturtagen nach Nürnberg eingeladen. Auch das kam sehr gut an. Auf diese Weise haben wir gute Kontakte zu der Stadt Archangelsk und zum Archiv der Behörde für Innere Angelegenheiten (UWD) hergestellt. So lernten wir auch die Historiker der Pomorischen Lomonossow-Universität  Archangelsk kennen, darunter auch Herrn Professor Michail Suprun, den Inhaber des Lehrstuhls für russische Geschichte.

Gemeinsam mit Professor Suprun, dazu dem Leiter des UWD-Archivs Alexander Dudarjew sowie dem Deutschen Roten Kreuz haben wir das Projekt ins Leben gerufen, das jetzt für Schlagzeilen sorgt. Den Kooperationsvertrag haben wir im Mai 2007 unterschrieben.

Was genau ist das Ziel des Projekts?
Im Vertrag haben wir drei Gruppen von Deutschen ausgemacht, deren Geschichte wir erforschen wollten. Die erste Gruppe umfasst die Kulaken (Großbauern), die 1928 bis 1933 vom Schwarzen Meer (Odessa, Nikolajew) in den hohen Norden ans Weiße Meer deportiert wurden. Das sind etwa 5.000 Familien mit jeweils fünf bis sechs Familienmitgliedern gewesen. Das heißt, es waren circa 25.000 bis 30.000 Deutsche. Mich interessiert das weitere Schicksal dieser Leute: Wohin genau hat man sie geschickt, was haben sie gearbeitet, wie haben sie gelebt und so weiter.

Zu der zweiten Gruppe zählen die Russlanddeutschen, die während des Krieges umgesiedelt wurden. Zehntausende von Ihnen wurden von den Nazis zuerst in den Warthegau im heutigen Polen getrieben, ein Teil von ihnen gelang dann nach Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Diese Gebiete wurden 1945 teilweise von den Amerikanern besetzt, aber nach der Potsdamer Konferenz an die Sowjetunion abgegeben. Als die Sowjets sie besetzten, wurden die Russlanddeutschen wieder nach Osten deportiert: nach Archangelsk, Sibirien, in den Nordural, immer dorthin, wo Arbeitskräfte gebraucht wurden.

Die dritte Gruppe sind die deutschen Kriegsgefangenen.

Was sind die bisherigen Ergebnisse gewesen?
Mit der Gruppe der Kulaken haben wir uns noch nicht befasst. Das liegt daran, dass die betroffenen Personen damals nicht einzeln, sondern familienweise erfasst wurden. Das erschwert die Recherche erheblich, weshalb wir diese Arbeit vorerst verschoben haben.

Anton Bosch

Über 25 bis 30 Tausend Kriegsgefangene haben wir herausbekommen, dass ihre Daten nicht mehr in Archangelsk, sondern in Sagorsk, nahe Moskau, aufbewahrt werden. Wahrscheinlich werden die Akten aller Kriegsgefangenen dort zentral aufbewahrt. So haben wir uns vor allem auf die Gruppe der im Zweiten Weltkrieg deportierten Russlanddeutschen konzentriert. Suprun und Dudarjew haben circa 7.000 bis 8.000 Personen erfasst, aber die Übergabe dieser Daten hat nicht stattgefunden.

Zwei Tage vor der Übergabe wurden die Daten vom russischen Geheimdienst beschlagnahmt. Suprun, seine Mitarbeiter und Studenten wurden mehrmals verhört. Auch Dudarjew wurde verhört. Mittlerweile darf er aber wieder arbeiten. Suprun dagegen hat weiterhin keinen Zugang zu der Universität.

Was genau wird Professor Suprun und der Arbeitsgruppe vorgeworfen?
Professor Suprun wird der „Sammlung und Weitergabe persönlicher Informationen“ beschuldigt. Doch das ist normalerweise keine Angelegenheit für den FSB, sondern für die Staatsanwaltschaft. Nach einem Monat ist der Fall tatsächlich an die Staatsanwaltschaft weitergegeben worden.

Anschließend gingen die Unterlagen nach Moskau und dann nach einem weiteren Monat nach St. Petersburg. Suprun und Dudarjew schätzen diese Entwicklung positiv ein, weil vor einem Jahr ein ähnlicher Fall in St. Petersburg bearbeitet wurde. Angeklagt wurde damals eine lokale Gruppe der Menschenrechtsgesellschaft ‚Memorial‘. Der Prozess dauerte über ein Jahr, und ‚Memorial‘ hat ihn schließlich gewonnen. Suprun hat auch den Rechtsanwalt für sich gewinnen können, der damals ‚Memorial‘ vertreten hat.

Und wie geht es mit Ihrer Arbeit weiter?
Das ist die große Frage. Suprun darf vorläufig nicht arbeiten. Er sagte mir, auch wenn die Sache für ihn positiv ausgeht, ist sein Ansehen so geschädigt, dass er an der Lomonossow-Universität in Archangelsk nicht bleiben kann. Wahrscheinlich wird er die Stelle wechseln.

Unser Vertrag geht nur noch bis Mai 2010. Die Gesetzeslage ist so, dass die Behörden bis zum 13. Dezember entweder den Fall schließen oder einen Gerichtsprozess beginnen müssen. Wird der Fall geschlossen, bleibt uns noch ein halbes Jahr, aber Suprun kann ja nicht mehr mitarbeiten. Das heißt, der Vertrag bleibt unerfüllt. Ich habe große Zweifel, dass wir die Arbeit zu Ende führen können. Vielleicht war genau das beabsichtigt.

Dabei wäre es sehr wichtig, dass die Kulakenfamilien noch bearbeitet würden. Die Gruppe der Kriegsgefangenen kann man noch auf anderen Wegen bearbeiten – das Rote Kreuz hat Verbindungen zum Archiv in Sagorsk. Aber die Unterlagen über die Bauern, die 1928 bis 1933 deportiert wurden, befinden sich nur im Archiv von Archangelsk.

aus: Deutsch-Russische Zeitung, Nr. 12 (24), Dezember 2009

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Dr. Anton Bosch
Vorsitzender des Historischen Forschungsvereins der Deutschen aus Russland

Anton Bosch kam 1934 in Kandel, einer deutschen Bauernkolonie bei Odessa, auf die Welt. Im März 1944 wurde die Familie umgesiedelt und kam zuerst in den Warthegau und später, im Januar 1945, nach Sachsen, das später von den Amerikanern besetzt wurde. Nachdem Sachsen bei der Potsdamer Konferenz (Juli/August 1945) der Sowjetischen Besatzungszone zugeteilt wurde, wurde die Familie in den Nordural deportiert. 1961 folgte der Umzug nach Karaganda, wo er die polytechnische Hochschule absolvierte. 1973 zog er mit Frau und zwei Töchtern nach Moldawien und stellte dort den Antrag auf Ausreise nach Deutschland. Seit 1974 wohnt er mit seiner Familie in Nürnberg.