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Geschichtsforschung wird immer schwieriger

Der Historiker Andrej Blinuschow zum Fall Suprun
Geschichtsforschung wird immer schwieriger Gulag-Mahnmal

Der Fall Michail Suprun hat nicht nur in Wissenschaftskreisen für enorme Unruhe gesorgt. Der Dozent an der Pomorischen Staatsuniversität von Archangelsk hat Archivmaterial über das Schicksal verfolgter Russlanddeutscher gesammelt und wird dafür nun strafrechtlich verfolgt. Während sich die Staatsanwaltschaft Archangelsk noch in Schweigen hüllt, äußern sich russische Wissenschaftler, Anwälte und Vertreter gesellschaftlicher Organisationen zu den Vorgängen in Archangelsk.

Rostow, im November 2009 – Der Historiker Andrej Blinuschow ist der Ansicht, dass das Verfahren gegen Michail Suprun nicht das letzte gegen Forscher sein wird, die sich mit der Phase der politischen Repression in der Sowjetunion beschäftigen. Es sei auch zu befürchten, meint Blinuschow im Gespräch mit ORNIS, dass die Archive der Behörden - neben dem Hauptarchiv gibt es 23 Behörden mit eigenem Archiv - den Wissenschaftlern "keine Dokumente mehr zur Verfügung stellen, obwohl wir hier ohnehin schon mit erheblichen Einschränkungen leben müssen.“

ORNIS: Erschreckt Sie vor allem der Umstand, dass womöglich künftig der Wissenschaft keine Daten mehr zur Verfügung stehen?
Blinuschow: Das Datenschutzgesetz dient angeblich dem Schutz der Bürger. Dabei ist uns nicht ein einziger Fall bekannt, dass es wegen der Weitergabe ganzer Datenbanken durch Telefongesellschaften irgendwann einmal zu einem Gerichtsprozess gekommen ist. Es ist geradezu lächerlich, dabei werden in Moskau an jeder Straßenecke Datenbanken der Gosavtoinspekcija* oder der Technischen Inventarisierungsbüros** zum Kauf angeboten.

Wodurch sieht sich der Staat bedroht?
Ich befasse mich schon rund 20 Jahre mit diesem Thema, und ich habe den Eindruck, dass die Beamten ganz offensichtlich kein Signal bekommen haben, dass es an der Zeit sei, die Wahrheit über politische Verfolgung aufzudecken, mit der Vergangenheit abzurechnen und das Andenken an die Opfer zu bewahren. In den Regionen, wo das dagegen gut funktioniert, liegt das daran, dass beispielsweise der Vorsitzende der Rehabilitierungskommission selbst Sohn oder Enkel eines Verfolgten ist.

Starker Staat

Ist es so, dass der Staat sich nach wie vor nicht zu seiner Schuld bekennen will?
Ich glaube, ja. Aber das hat nichts mit dem Stalinismus zu tun. Die Beamten sind nicht alle Stalin-Anhänger oder Befürworter extremer Methoden bei der Staatsführung. Aber sie vertreten sehr wohl die Ansicht, dass der Staat mit harter Hand geführt werden muss und der Mensch in diesem Räderwerk nur eine untergeordnete Rolle spielt.

In den meisten Regionen der Russischen Föderation halten die Behörden nicht sehr viel von der Verwirklichung des „Gesetzes zur Rehabilitierung der Opfer politischer Verfolgung“ aus dem Jahre 1991. Ausgenommen die Regionen, die früher selbst Verbannungsorte waren. Der Staat hat sich schon immer davor gefürchtet, dass Massenhinrichtungen publik werden. Darauf reagieren die Menschen besonders sensibel. Aus gutem Grund: Es sind ihre Verwandten, die ums Leben gekommen sind.

Wie waren die Reaktionen in Historikerkreisen auf das Geschehen in Archangelsk?
Blinuschow: Die Geschichte um Dudarjew und Suprun hat alle sehr aufgebracht. Die Vorbereitung eines Gedenkbuches ist mit einer gewaltigen analytischen Arbeit verbunden, die einem niemand angemessen bezahlt, wenn überhaupt. Eigentlich müsste sich die Staatsanwaltschaft mit dieser Arbeit befassen, so, wie es im Rehabilitierungsgesetz vorgesehen ist. Heute wird diese Arbeit von Menschen geleistet, die das für ihre menschliche Pflicht halten.

Andrej Blinuschow

Neue Gesetze verabschiedet

Uns beunruhigt ganz besonders, dass eine strafrechtliche Untersuchung wegen Sammelns persönlicher Daten eingeleitet wurde, obwohl das einige Wissenschaftler, ehrlich gesagt, schon lange erwartet hatten.

Was haben sie konkret erwartet?
In den vergangenen zehn Jahren wurden heimlich, still und leise verschiedene Gesetze verabschiedet, die zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens in der Gesellschaft gar nicht als eine Bedrohung von Freiheit und Menschenrechten gesehen wurden. Aber dann gingen diese „Minen“ hoch.

Angaben aus Fragebögen von Verfolgten unterliegen zum Beispiel nicht der Geheimhaltung. Das ist im Gesetz zur Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung und im Datenschutzgesetz geregelt. Das Buch von Suprun ist noch nicht gedruckt. Es geht also nur um die gesammelten Daten. Wenn jetzt also von der Preisgabe von Daten die Rede ist, stellt sich die Frage, wo denn diese Preisgabe erfolgt ist.

Noch viel alarmierender ist die Behauptung, es wäre um die „Weitergabe von Daten ins Ausland aus eigennützigen Beweggründen“ gegangen. So etwas ist schon einmal einem Historiker passiert, dem Mitarbeiter des USA- und Kanada-Instituts der Akademie der Wissenschaften Russlands, Igor Sutjagin. Wir hätten es damals nicht für möglich gehalten, dass man Sutjagin verurteilt. Dabei hat er nur frei zugängliche Daten genutzt, die er im Rahmen eines humanitären Projekts weitergab. Aber er wurde wegen Spionage angeklagt und sitzt mittlerweile bereits zehn Jahre im Gefängnis.

"Keine einfache Angelegenheit"

Welchen Grund gibt es, eine Person anzuklagen, die die Geschichte der Russlanddeutschen erforscht? Die Deutschen in Russland werden ja heute mit einem Sonderprogramm vom Staat unterstützt. Aus diesem Budget werden auch zahlreiche Forschungsarbeiten finanziert, die sich mit der Geschichte der Deutschen befassen.
Das ist sehr schlimm. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass es bei den Forschungsarbeiten Supruns nicht nur um Deutsche, sondern auch um Polen geht. Und hier befinden wir uns bereits in einem völlig anderen politischen Kontext. Es ist durchaus möglich, dass Professor Suprun und Oberst Dudarjew Opfer der politischen Geschichte geworden sind, die mit dem Verhältnis zwischen Russland und Polen zusammenhängt.

Michail Suprun hat Memorial um Hilfe gebeten. Was kann die Organisation tun?
Der Professor hat sich an das wissenschaftliche Informationszentrum Memorial St. Petersburg gewandt. Die besten Rechtsanwälte von St. Petersburg haben ihn beraten und ihm Verhaltensregeln für die derzeitige Etappe der Untersuchung empfohlen. Memorial verfügt aber nicht über die finanziellen Möglichkeiten, um einen Rechtsanwalt aus Moskau oder St. Petersburg zu beauftragen und nach Archangelsk zu schicken. Trotzdem gibt es Möglichkeiten, den Professor während der Untersuchung zu beraten.

Haben Rechtsanwälte in dieser Geschichte überhaupt einen Handlungsspielraum?
Ich denke schon, weil das Ganze im völligen Widerspruch zum Gesetz über die Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung steht. Darüber hinaus gibt es natürlich viel Spielraum für juristische Auslegungen. Keine einfache Angelegenheit, würde ich sagen. Es wird viel vom professionellen Geschick der Juristen abhängen. (Interview: Irina Kornewa; Übersetzung: Norbert Krallemann)


*  staatliche Kfz-Inspektion, entspricht dem TÜV in Deutschland
** Institutionen, die im staatlichen Auftrag für die technische Wartung und Inventarisierung von Immobilien zuständig sind

 

 
Links zum Thema
- Langversion des Interviews mit Andrej Blinuschow

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Zur Person

Andrej Blinuschow, Historiker, ist Vorsitzender der Gesellschaft für Geschichte und Bürgerrechte Memorial in Rjasan,  Vorstandsmitglied von Memorial und Mitglied des Expertenrats des Menschenrechtskommissars in der Russischen Föderation. Von 1992 bis 2008 war er Chefredakteur der russischen Zeitschrift für Geschichte und Bürgerrechte „Karta“. Er ist Autor der Website „Menschenrechte in Russland“ (www.hro.org). Im Rahmen seiner Arbeit sucht er nach den Gräbern der in der UdSSR verfolgten Polen und beteiligt sich daran, das Massaker von Katyn, bei dem sowjetische Geheimdienstmitarbeiter 1940 mehrere tausend polnische Offziere und Zivilisten ermordeten, aufzuarbeiten.
Langfassung


 

 

 

das ungekürzte Interview mit Andrej Blinuschow in einer PDF-Fassung

hier