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Zurück in die Zeit des Grossen Schweigens?

Zur Verfolgung von Michail Suprun und Aleksander Dudarjew

Das Ziel heißt Versöhnung. Hunderte von Gedenkbüchern erinnern in Russland an die Zeit von Repression, Gefangenschaft und Tod. Doch wer heute die Erinnerung an die Opfer jener Jahre des Stalin-Regimes wach ruft, riskiert selbst Verfolgung. Der Fall des Historikers Michail Suprun aus Archangelsk ist ein Beleg. Der in Kyrgyzstan tätige russlanddeutsche Wissenschaftler J. Otto Pohl spricht von neostalinistischer Rückbesinnung.

Von J. Otto Pohl*

Bischkek, im Oktober 2009 - Die jüngsten Aktivitäten der russischen Regierung zur Rehabilitierung Stalins haben beunruhigende Züge angenommen. Die revisionistische Deutung der Geschichte, wie sie neuerdings von Moskau vorgenommen wird, hat sich von der einfachen Rechtfertigung der Verbrechen Stalins gegen die Menschlichkeit hin zur aktiven Unterdrückung von Forschungsvorhaben gewandelt, die dem Schicksal der Verbrechensopfer gewidmet sind.

Besonders deutlich wird das beim Einsatz von Geheimdienst und Strafrecht zur politischen Verfolgung von Professor Michail Suprun von der Pomorischen Staatsuniversität in Archangelsk und Oberst Alexander Dudarjew. Beide waren mit der Erforschung von Schicksalen tausender Russlanddeutscher befasst, die in Arbeitslager und Sondersiedlungen des Archangelsker Gebiets interniert worden waren.

Während die russische Regierung mittlerweile Stalin fast vollständig rehabilitiert hat, gilt dies nicht für viele seiner Opfer, darunter die Russlanddeutschen. Weder die UdSSR noch die Russische Föderation haben ihren Bürgern jemals nationale Gleichheit zugestanden. Die unterschiedlichen Nationalitäten sahen sich immer nur in den ihnen zugewiesenen Gebieten geschützt und in der Lage, ihre kulturellen Wurzeln zu pflegen.

J. Otto Pohl

Diversanten und Spione

In den 1920er und 1930er Jahren besaßen die Russlanddeutschen die Autonome  Sowjetrepublik der Wolgadeutschen sowie ein Dutzend nationaler Bezirke in der Ukraine, im Altaigebiet, in Kuban, auf der Krim, in Aserbaidschan und Georgien. Stalin hat diese Gebiete allerdings aufgelöst und die deutsche Bevölkerungsgruppen nach Kasachstan und Sibirien deportiert, wo rund ein Fünftel der Verbannten durch Hunger, Krankheit und Entbehrungen umkam.

Als offizielle Rechtfertigung für die massenhafte Entwurzelung der Menschen diente die falsche Beschuldigung, Russlanddeutsche würden in ihren Gemeinden „Tausenden und aber Tausenden Diversanten und Spionen“, die zu Sabotage-Akten gegen den Sowjetstaat bereit stünden, Unterschlupf gewähren. […]

Am 29. August 1964 räumte die sowjetische Regierung ein, dass die Verratsvorwürfe vollkommen gegenstandslos waren, behielt aber die Aufenthaltsvorschriften bei, nach denen die Russlanddeutschen östlich des Urals festgehalten wurden. Offiziell blieb das Verbot, sich im europäischen Teil der Sowjetunion anzusiedeln, für die Russlanddeutschen bis zum 3. November 1972 in Kraft. Selbst danach wurde den meisten Russlanddeutschen nicht erlaubt, westlich des Urals zu leben.

Enttäuschte Erwartungen

So blieben sie über Kasachstan, Zentralasien und Sibirien verstreut, ihrer nationalen Rechte beraubt, durch Stalins Verweigerung der leninistischen Nationalitäten-Politik. Die Verweigerung einer vollständigen Rehabilitation machte deutlich, dass die Russlanddeutschen niemals gleichberechtigte sowjetische Staatsbürger werden könnten und entfachte eine Ausreisewelle, die in den 1970er Jahren einsetzte. […]

Schließlich verurteilte die sowjetische Regierung die Deportation der Russlanddeutschen von 1941. Diese Politik erweckte bei vielen Beobachtern die Hoffnung, die russische Regierung werde die stalinistische Vergangenheit aufarbeiten und den Opfern ermöglichen, ein gewisses Maß an Gerechtigkeit zu erlangen. […]

Auch haben Überlebende kaum eine angemessene Entschädigung für ihr Leid und den Verlust von Eigentum durch die Deportationen erhalten. Die ungerechte Bestrafung, der diese Männer und Frauen durch das Stalin-Regime ausgesetzt waren, wird weder durch den russischen Staat noch durch die russische Gesellschaft angemessen anerkannt. Eine große Zahl Männer, Frauen und Kinder hat die Repressionen der Stalinzeit nicht überlebt.

Versöhnung zwischen den Nachkommen

Und heute will die russische Regierung Wissenschaftler daran hindern, auf deren Schicksal aufmerksam zu machen. Selbst so harmlose Formen der Würdigung der Opfer wie die Publikation von Gedenkbüchern werden mittlerweile von der russischen Regierung bedroht. Die Unterdrückung der Wahrheit über die Opfer stellt eine weitere Einschränkung der Rechte der deutschen Minderheit in Russland dar. Dies ist die eigentliche Bedeutung der Verfolgung von Suprun und Dudarjew.

Möchte Russland international an Ansehen gewinnen, muss es von seiner stalinistischen Vergangenheit abrücken. Es muss sich mit den Verbrechen dieser Ära auseinandersetzen und eine Versöhnung zwischen den Nachkommen von Tätern und Opfern ermöglichen.

Deutschland, Südafrika, Chile und viele andere Staaten haben diesen Weg erfolgreich eingeschlagen, um demokratische Gesellschaften zu schaffen und Menschenrechte zu gewährleisten. Russland sollte diesen Beispielen folgen und sich nicht rückwärtsgewandt auf ein neostalinistisches Regime zubewegen.

Ein Schritt in diese Richtung sollte sein, die Anklagen gegen Suprun und Dudarjew fallen zu lassen und ihnen die Fortführung ihrer Forschungen und Veröffentlichungen über die russlanddeutschen Opfer des Stalinismus zu erlauben. (gekürzte Fassung; Langfassung siehe rechte Spalte)


* J. Otto Pohl ist Dozent für Internationale und Vergleichende Politikforschung an der American University of Central Asia in Bischkek, Kyrgyzstan. Er schloss 1992 das Studium der Geschichte (B.A.) am Grinnell College in Grinnell, Iowa, ab sowie später an der School of Oriental and African Studies der Universität London (M.A., 2002; Ph.D, 2004). Er ist zudem Autor von ‚The Stalinist Penal System‘ (Jefferson, NC: McFarland, 1997) und ‘Ethnic Cleansing in the USSR, 1937-1949’ (Westport, CT: Greenwood, 1999). Er verfasste zahlreiche Beiträge zum Thema Deportation in der UdSSR. Unter anderem veröffentlichte er im Journal of Genocide Research, Human Rights Review sowie im Journal of Interdisciplinary History.

 
Links zum Thema
- Es lebe Stalin! Vergangenheitsbewältigung in Russland (NDR, 19.10.2009)
- American University of Central Asia (englisch)
- American University of Central Asia (russisch)
- American University of Central Asia (kirgisisch)
 
Ihre Meinung

Ira, Hamburg, 12.03.2010, 12.03.2010 20:46:18:

Das Thema Russlandsdeutsche und Ihre Geschichte wird noch lange uns alle beschäftigen. Und ich Danke Allen,die die Wahrheit darüber ans Licht bringen versuchen. Es ist nicht leicht, sogar sehr gefährlich. Leute macht bitte weiter,es wäre Gerecht gegenüber unserer Vorfahren.

seehundstation, 27.10.2009 18:50:43:

die welt war und ist grausam und ungerecht!

Anna, 26.10.2009 18:06:11:

Vielen Dank für Ihren interessanten Beitrag.


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Langfassung deutsch


 

Pohl, Otto: Zurück in die Zeit des großen Schweigens? (Langfassung)


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englischsprachige Fassung
english version


 

 

J. Pohl, Otto: The Persecu-tion of Mikhail Suprun


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