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Suprun-Prozess: Fadenscheinige Anklage

Beredtes Schweigen der russlanddeutschen Organisationen
Suprun-Prozess: Fadenscheinige Anklage Michail Suprun

In Archangelsk ist das Verfahren gegen den Historiker Michail Suprun eröffnet worden. Der Wissenschaftler arbeitete an einem Erinnerungsbuch für verfolgte Russlanddeutsche zur Stalinzeit und soll dabei gegen Bestimmungen des Datenschutzes verstoßen haben. Vermutet werden allerdings politische Motive. Unterstützung erhält Suprun von Kollegen und Menschenrechtlern aus dem In- und Ausland. Zurückhaltend zeigen sich dagegen russlanddeutsche Organisationen.

Berlin, im November 2011 – Ende Oktober ist das Verfahren gegen den Historiker der Pomorischen Lomonossow-Universität in Archangelsk eröffnet worden. Inzwischen lautet die Anklage auf Verletzung von Datenschutzbestimmungen und der Privatsphäre. Vor zwei Jahren hatten Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB Büro und Privaträume Michail Supruns durchsucht und wichtige Forschungsunterlagen konfisziert.

Für ein Gedenkbuch zur Erinnerung an das Schicksal Russlanddeutscher sammelte der Wissenschaftler Informationen zu den Opfern der Deportation des Jahres 1941, als Angehörige der Minderheit von Krim und Wolga auch in das Gebiet Archangelsk verschleppt wurden. Für das „Trauerbuch Archangelsk“, das vom Deutschen Roten Kreuz unterstützt wurde und an dem der Historische Forschungsverein der Deutschen aus Russland mitarbeitete, hatte Suprun bereits 20 Prozent der damaligen Opfer ermittelt.

Hinter verschlossenen Türen

Von dem nicht-öffentlichen Verfahren ist bislang nicht viel nach außen gedrungen. Was jedoch zu erfahren war, reicht bereits zu der Annahme, dass die Anklage offenbar mit wenig Geschick konstruiert wurde. So konnten die Kläger, Nachfahren deportierter Russlanddeutscher, die Suprun die geplante Veröffentlichung vermeintlich privater Angaben anlasten, keine näheren Angaben zu ihren Vorwürfen machen. Andere sollen vor Gericht ausgesagt haben, Mitarbeiter des Geheimdienstes FSB hätten sie zu der Klage gedrängt.

Im In- und Ausland hat es empörte Reaktionen auf Verhaftung und Anklage von Michail Suprun gegeben. Wissenschaftskollegen, aber auch gesellschaftliche Organisationen meldeten sich zu Wort. Der Historiker Boris Sokolow stellte fest, Wissenschaftler würden vor Gericht gezerrt, „nur weil sie es gewagt haben, die Geschichte unseres Landes ehrlich zu betrachten. Wir brauchen öffentliche Proteste gegen die Zensur, die unter dem fadenscheinigen Argument des Schutzes der Privatsphäre daherkommt“.

Suprun-Anwalt Ivan Pavlov

Präzedenzfall

Die Menschenrechtsorganisation Memorial, die Suprun sofort Unterstützung zusagte, sieht nun die Gefahr, dass die Rehabilitierung ehedem verfolgter und unterdrückter Bevölkerungsgruppen - wie der deutschen Minderheit in der Sowjetunion – nahezu unmöglich wird. „Der Prozess stellt einen bemerkenswerten Präzedenzfall für die Mitarbeiter der Archive und Forscher dar, die aus Angst vor möglicher Verfolgung die Herausgabe der Informationen nun zurückhalten werden.“

Die Rehabilitierung der Bevölkerungsgruppe haben sich auch die führenden  russlanddeutschen Organisationen in Russland zum vorrangigen Ziel gesetzt. Umso bemerkenswerter, wie zurückhaltend der Internationale Verband der deutschen Kultur (IVdK) und die Föderale Nationale Kulturautonomie (FNKA) auf die Ereignisse in Archangelsk und den Prozess gegen Michail Suprun reagierten. Nach der Festnahme des Wissenschaftlers Ende September 2009 schwang sich Heinrich Martens, Leiter beider Organisationen in Personalunion, erst mehrere Wochen später zu einem folgenlosen Protest auf.

Martens forderte damals, die „unbegründeten und haltlosen Vorwürfe gegen den Historiker“ unverzüglich zurückzuziehen. Ansonsten „behalte ich mir vor, mich in meiner Eigenschaft als führender Funktionär der Russlanddeutschen und als Bürger der Russischen Föderation an den Präsidenten Russlands zu wenden“.

Kein Interesse

Vielleicht zieht es der führende Funktionär der Russlanddeutschen derzeit noch vor, den geeigneten Moment abzuwarten. Jedenfalls ist von einer Demarche der russlanddeutschen Organisationen bislang nichts bekannt. Während Kritiker weiterhin protestieren, sogar Kundgebungen zur Unterstützung Supruns stattfinden - so Ende Oktober vor der russischen Botschaft in Stockholm - bleiben ausgerechnet die russlanddeutschen Organisationen stumm.

Vielleicht stört ein Wissenschaftler, der unbestechlich seiner Arbeit nachgehen möchte, den zarten Flirt mit der Macht, der bekanntlich kaum ohne Kompromisse gekostet werden kann. Und die hat kein Interesse, meint Anton Bosch vom Historischen Forschungsverein in Nürnberg, die Vergangenheit aufzuarbeiten und „die Taten ihrer Großväter und Väter aufzudecken“. Dabei sitzt IVdK/FNKA-Präsident Heinrich Martens fast an der Quelle, um auf Aufklärung hinzuwirken: Als Vertreter der russlanddeutschen Bevölkerungsgruppe im Nationalitätenausschuss der Staatsduma ist seine Aufgabe, die Interessen der Minderheit wahrzunehmen. Das tut er auch, wenn er etwa beklagt, dass die Minderheitenpolitik in Russland in der Regel ohne die Stimme der Minderheiten selbst gemacht wird.

Rückschlag

Michail Suprun wollte den verfolgten Russlanddeutschen im Gebiet Archangelsk nach Jahrzehnten erstmals eine Stimme geben. Das hat der FSB zu verhindern gewusst und den Wissenschaftler vor Gericht gezerrt. Der Rückschlag, der der immer noch unerfüllten Forderung nach vollständiger Rehabilitation der deutschen Minderheit in Russland dadurch versetzt wurde, scheint die Vertreter der Russlanddeutschen nicht zu beunruhigen. Zum 4. November bedachten Präsident und Ministerpräsident, Dmitri Medwedew und Wladimir Putin, den Vorsitzenden von IVdK und FNKA mit persönlichen Glückwunschschreiben zum Tag der Nationalen Einheit. (Ulrich Stewen)

 
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Nichts dazugelernt

"In den Geheimdiensten arbeiteten ganze Dynastien, die Großeltern haben Stalins Opfer in die Lager gesperrt, die Eltern nichts daraus gelernt, nun wachen die Kinder über ihr Vermächtnis."

ein Freund Michail Supruns, zitiert von Sonja Zekri in: Süddeutsche Zeitung, 7. Oktober 2009



Der Historiker Alfred Eisfeld zu Forderungen nach vollständiger Rehabilitation der Russlanddeutschen

„Ich persönlich halte diese Forderung für berechtigt, nicht nur als Rehabilitierung der unschuldig Verfolgten, sondern als unverzichtbarer Beitrag zur Normalisierung der innerstaatlichen Ordnung, als Stärkung des Rechtssystems und der Zivilgesellschaft. Man hat jedoch den Eindruck, dass gelegentliches Wiederholen dieser Forderungen das politische Geschäft schon lange nicht mehr stört.“

Aus seiner Rede bei der Konferenz „Zwei Jahrzehnte Politik für Aussiedler und nationale Minderheiten“ in Berlin am 3. September 2008


Rehabilitation der Russlanddeutschen durch den russischen Staat

„Wir wollen das Thema weiterhin auf der Tagesordnung der Regierungskommission halten, weil wir der Auffassung sind, dass Russland die einzige große Nation ist, die im Gegensatz etwa zur Ukraine oder Kasachstan die Russlanddeutschen noch nicht in einem Gesetz rehabilitiert hat.“

Frank Willenberg, ehemaliger Mitarbeiter im Bundesministeriums des Innern, nach der Sitzung der Deutsch-Russischen Regierungskommission in Bonn im Oktober 2008


 Der Fall Michail Suprun - Hintergrund:

Das Ornis Dossier