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„Kinder schreiben Geschichte“

Jugendliche erkunden Familienschicksale in Kasachstan
„Kinder schreiben Geschichte“

Lissakowsk liegt im Norden Kasachstans, hundert Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Seit 2003 gehört zum dortigen Museum der Kinderklub „Atameken“ (1), der sich mit deutschen Traditionen beschäftigt. 2008 haben die Mitglieder des Klubs einen landesweit ausgeschriebenen Wettbewerb zum Thema „Das Rad der Geschichte: gestern, heute, morgen“ und damit einen Preis der GTZ in Kasachstan gewonnen. Mit dem Preisgeld konnte das Projekt „Kinder schreiben Geschichte“ finanziert werden. In ihren Arbeiten schreiben die jungen Historiker aus ihrer Sicht über die Geschichte der Deutschen und berichten über eigene Untersuchungen und Entdeckungen.

Lissakowsk im September 2008 – […] Bereits 1899 zog eine erste Gruppe deutscher Siedler aus den südrussischen Gouvernements Cherson und Poltawa, heute Verwaltungsgebiete in der Ukraine, in den Bezirk Kustanaj im heutigen Kasachstan. […] Ihnen folgten 1900 weitere 189 Familien […], und 1907 gab es bereits fünf deutsche Siedlungen: Wikentewka, Marinowka, Neljubinka, Woskresenskij und Semjonowskij. […] Im Zuge der Kollektivierung in den 1930er Jahren wurden viele Siedlungen und Kolchosen umbenannt und hießen jetzt Engels, Marx, Liebknecht oder Thälmann. […]

Im Staatlichen Archiv Kustanaj werden Legitimationsscheine und Karteikarten von Kriegsgefangenen und Flüchtlingen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges und des Bürgerkrieges aufbewahrt, darunter auch die Bescheinigung Nr. 3249, ausgestellt 1915 für die Deutsche Maria Böttcher, 53 Jahre alt mit dem Vermerk „Wohnort nur Kustanaj“, oder die Karte Nr. 709 des Soldaten Iwan Hoffmann mit den persönlichen Daten „deutsche Nationalität, Tischler, ledig, am 27. 06. 1915 in den Karpaten in Gefangenschaft geraten“. Vielleicht gibt es ja in den Familienarchiven der Nachkommen in Deutschland weitere Dokumente über das Schicksal dieser Menschen in der fernen kasachischen Steppe. […]

Der spätere große Zustrom von Deutschen war eine Folge der Deportation im Jahre 1941. Zwischen dem 25. September und dem 10. Oktober 1941 kamen mehr als 28.000 in das Gebiet Kustanaj. […]

Während unserer Expedition durch die Dörfer unseres Gebiets ist es uns gelungen, noch einige Personen vor unsere Kameras zu bekommen, die die Deportation damals miterlebt haben. 20 Familien der Deportierten stammten aus dem Dorf Luj (Mariental, Verwaltungsgebiet Saratow). Von drei Familien konnten wir deren Geschichte rekonstruieren. In Antonowka unterhielten wir uns mit Anton Quint. Er erinnert sich noch sehr gut daran, wie groß Luj damals war: 900 Höfe gab es in dem Dorf an der Wolga! Seine Familie lebte in einem Haus aus Lärchenholz, zu dem auch ein Keller für die Lebensmittel gehörte. Nach Kustanaj wurden sie mit der Eisenbahn gebracht. Ein Teil der Familien wurde in das Dorf Simonowka geschickt, jeweils vier Familien in ein Haus.

1942 wurde sein Vater zur Arbeitsarmee nach Tschebarkul eingezogen, und nach nur sechs Monaten musste er ins Krankenhaus gebracht werden. Einige Familien aus Luj lebten nach der Deportation in dem Dorf Kalinowka. Darüber berichteten uns Warwara Spieß und Eduard Quint. Eduard Quint erinnerte sich, dass seine Familie erst nach Baku kam, aus Angst vor Bombardements ins Gebiet Saratow zurückkehrte und dann nach Kalinowka deportiert wurde. Der Vater verlor seine Familie aus den Augen und suchte ein ganzes Jahr nach ihr. Gerade als er sie wiedergefunden hatte, wurde er zur Arbeitsarmee eingezogen, von wo er nicht mehr zurückkehrte. […]

Auf unserer Expedition durch die deutschen Dörfer im Gebiet Kustanaj, die Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet wurden und in denen bis heute Deutsche leben, haben wir mit 15 deutschen Familien gesprochen. In elf dieser Familien werden nach wie vor deutsche Traditionen gepflegt. […]

Die Deutschen haben viel für die wirtschaftliche Entwicklung Nordkasachstans geleistet. Sie haben würdevoll die schweren Prüfungen ertragen und als Antwort um sich herum viel Schönes geschaffen. Unsere Pflicht heute ist es, so viel wie möglich über das Leben der deutschen Volksgruppe zu erfahren und weiterzugeben. […] Neben den vielen Fotos und Videoaufzeichnungen aber waren für die Projektteilnehmer die Gespräche mit den Angehörigen der deutschen Volksgruppe sehr wichtig.

Quelle: Юлия Буданова, „Панорама исторических судеб“,
Julija Budanova, „Panorama istoriceskich sudeb“,
http://deutsche-allgemeine-zeitung.de/rus/ vom 19. September 2008;
Übersetzung: Norbert Krallemann

 (1) kasachisch: Vaterland, Heimatland


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