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„Ein einzigartiges Labor der Sprachen“

Viktor Heinz ergründet die Dialekte der Russlanddeutschen
„Ein einzigartiges Labor der Sprachen“ Foto: Nina Paulsen

Der Schriftsteller Viktor Heinz (71) lebt seit 1992 in Göttingen und steht in vorderster Linie der russlanddeutschen Literaturszene. Nadja Runde sprach mit ihm über sein jüngstes Buch, die Vielfalt der deutschen Dialekte und die Geschichte der Mundartenforschung.

Nadja Runde: Sie haben vor allem die Mundart der Deutschen, die nach Sibirien deportiert wurden, erforscht. Was war Ihre  Motivation?

Viktor Heinz: Ich habe nicht nur die Dialekte der nach Sibirien deportierten Deutschen erforscht, sondern auch derjenigen Deutschen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts während der Stolypin-Reform in Westsibirien und Nordkasachstan ansiedelten. Sie kamen aus den wolgadeutschen oder süddeutschen Mutter- und Tochterkolonien und gründeten deutsche Dörfer, in denen alle Bewohner Mundart sprachen. Und da sie ursprünglich aus verschiedenen Orten kamen, sprachen sie auch verschiedene Mundarten.

Schon als Schüler habe ich festgestellt, dass meine Landsleute im Dorf unterschiedlich redeten. Meine Eltern unterhielten sich in Südhessisch, und die Großmutter sprach Oberhessisch, das sich ganz stark von dem ersten unterschied. In der Schule wurde Russisch gelehrt, von dem wir, Kinder aus deutschen Familien, bei der Einschulung keine Ahnung hatten. Aber das alles wurde mir erst Ende der sechziger Jahre wirklich bewusst, als ich an der Omsker Pädagogischen Hochschule unterrichtete. Damals begann ich auch, die deutschen Dialekte in Russland zu erforschen.

Waren Studien zur Dialektforschung der Russlanddeutschen überhaupt zugänglich in der Sowjetunion?

Die deutschen Dialekte in der Sowjetunion waren tatsächlich ein einzigartiges linguistisches Labor, denn darin hatten sich Sprachphänomene konserviert, die in Deutschland wegen des Vormarsches des Hochdeutschen allmählich verloren gegangen waren. Mit der Rückkehr der Russlanddeutschen in ihre historische Heimat können sich ihre Dialekte gewissermaßen veredeln, indem sie sich von den zahlreichen lästigen Entlehnungen aus der russischen Sprache befreien. Die nächste Etappe dieser Entwicklung könnte der schrittweise Übergang zum Hochdeutsch sein. Was das Überleben der jeweiligen Mundart der Russlanddeutschen hierzulande betrifft, sehe ich dazu keine Notwendigkeit.

Die Dialekte der Russlanddeutschen sind vor allem für die allgemeine Sprachkunde und die Sprachforscher interessant, die sich mit den Prozessen der Sprachentwicklung befassen. Das Ziel der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion ist jedoch die Integration in der neuen Heimat, in erster Reihe ihre sprachliche Eingliederung.

Während meiner Recherchen für das Buch habe ich viele meiner Landsleute besucht und festgestellt, dass bei den Aussiedlern, die eine Mundart beherrschen, die Integration weniger schmerzvoll verläuft als bei den Landsleuten, die weder eine Mundart noch Hochdeutsch können. Was die Kinder aus den Aussiedlerfamilien betrifft, so erlernen sie in Kindergarten und Schule problemlos Hochdeutsch und passen sich ganz schnell der örtlichen Bevölkerung an.

das ungekürzte Interview hier herunterladen
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Wie viele Mundarten der Russlanddeutschen sind Ihnen bekannt?

In meinem Buch bin ich nur kurz auf die Besonderheiten folgender Dialekte eingegangen: 1) wolgadeutsche Mundarten (Oberhessisch, Südhessisch, Pfälzisch, Obersächsisch); 2) niederdeutsches Mennonitenplatt; 3) Schwäbisch; 4) Wolhynisch.

Selbstverständlich konnte ich nicht alle Aspekte der Mundarten der Russlanddeutschen erfassen. Das war auch nicht mein Ziel. Um so mehr, als es mit der Gründung immer neuer Tochterkolonien in verschiedenen Regionen des Russischen Reiches immer schwieriger wurde, die ursprünglichen Merkmale der Mutterkolonie-Mundarten auszugliedern, die unmittelbar aus den deutschen Provinzen mitgebracht worden waren. Bei meiner Auswahl von Mundarten habe ich mich genau daran orientiert.

Welche Mundart sprechen die meisten Russlanddeutschen?

Die Mehrheit der Russlanddeutschen, die noch eine Mundart können, spricht meiner Ansicht nach eines der rhein-fränkischen Dialekte - Hessisch oder Pfälzisch. Das sind die Nachkommen der wolgadeutschen und teilweise der schwarzmeerdeutschen Kolonisten, die sich auf den Ruf von Katharina II.  auf den Weg nach Russland gemacht hatten. Danach kommen die Mennoniten, die niederdeutsche – niederfränkische - Mundarten  sprechen, ihnen folgen die Schwaben, die aus den württembergischen Provinzen auswanderten, und die Wolhyniendeutschen, genauer gesagt aus dem Gebiet Schitomir und so weiter.   

An wen wendet sich Ihr Buch?
 
Das Buch könnte für jeden interessant sein, der sich mit diesem Thema  auseinandersetzen möchte. Von Anfang an wollte ich ein populärwissenschaftliches Buch schreiben, das komplizierte Entwicklungen in verständlicher Sprache erklärt. Deswegen habe ich mich bemüht, trockene Fakten, die in der Wissenschaftsliteratur üblich sind, zu vermeiden, sondern unterhaltsam, in einem Plauderstil zu erzählen. Eine Form, die ich jedem zumuten würde, der die deutsche Sprache gewissermaßen beherrscht.

Ich war schon immer davon überzeugt, dass die Geschichte der Mundarten der Russlanddeutschen auch eine breitere Leserschaft interessieren könnte, zumal hierzulande die Dialekte immer noch aus Tradition gepflegt und gesprochen werden. Das war die Motivation, dieses Buch zu schreiben und dadurch meine Landsleute der deutschen Öffentlichkeit näher zu bringen. (gekürzt, Interview: Nadja Runde; Übersetzung: Nina Paulsen)


Viktor Heinz,
Der eine spricht, der andre schwätzt, der dritte babbelt –
Einiges über die Mundarten der Deutschen aus Russland
Waldemar Weber Verlag
Nordendorfer Weg 20
D-86154 Augsburg

Tel.: 0821-419 04 31/3
Fax: 0821-419 04 31
E-Mail: waldemar.tatjana@t-online.de  
Preis: 12,00 Euro

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Viktor Heinz

 
Ihre Meinung

Andy, 25.03.2009 22:23:08:

Das Buch von Hr. Heinz ist sehr lesenswert, für alle sprachlich und dialektisch interessierte Menschen. Russlanddeutsche Dialekte sind sehr vielfältig und nett anzuhören, die Hauptdialekte sind wolgadeutsch (hessisch), schwäbisch, wolhynisch (ostdeutsch), und plautdietsch. Die Dialekte sind ursprünglich, leger anzuwenden und wohl weniger "technisch" als das derzeitige Hochdeutsch.


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Zur Person


Viktor Heinz wurde im Dorf Nowoskatowka bei Omsk geboren, studierte deutsche Sprache und Literatur in Nowosibirsk, promovierte 1971 über das Thema „Oberhessische Dialekte in Omsk“ und arbeitete als Dozent und Lehrstuhlleiter in Omsk und Petropawlowsk/Kasachstan, ab 1984 als Redakteur der Zeitung „Freundschaft“, heute „Deutsche Allgemeine Zeitung“ in Alma-Ata.
 
Dem dreiteiligen Stück „Auf den Wogen der Jahrhunderte“ (1993) liegt die Geschichte und Gegenwart der Volksgruppe zugrunde. Mit dem Werk „In der Sackgasse“ (1996) hat Heinz einen russlanddeutschen „Gesellschaftsroman“ geschaffen. Auch im Roman „Der brennende See“ (2000) setzt er sich mit dem Thema ‚Persönlichkeit unter Parteidruck’ auseinander.
 
Das  Buch „Zarte Radieschen und anderes Gemüse“ (2002) befasst sich mit dem Leben der Landsleute in der neuen Heimat. 2003 erhielt Heinz für sein Gesamtwerk als Dichter und Dramatiker den Ehrenpreis des Russlanddeutschen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg.