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Ein Geschenk des Himmels

Russlanddeutsche Einwanderer im US-Bundesstaat Kansas
Ein Geschenk des Himmels Carl Bernhardt Schmidt hat sich für die Einwanderung der Russlanddeutschen stark gemacht

Berlin (ORNIS) – Der Schlagetot James ´Wild Bill` Hickok soll schon ein paar Dutzend Männer auf dem Gewissen gehabt haben, als er Polizeichef von Hays City wurde. Da lag seine Glanzzeit bereits Jahre zurück. Seine Augen waren nämlich nicht mehr die Besten, und so kam es, wie es kommen musste: Bei einer Schießerei mit einem Gangster hatte er versehentlich auch seinen eigenen Stellvertreter umgelegt. Man jagte ihn aus dem Job und aus der Stadt Abilene – Kopfgeld für denjenigen, der ihn ausfindig machte, tot oder lebendig.

In einem solchen Fall blieb für einen Revolverhelden wie Hickok nur noch ein Ort: Hays City, das verruchteste Nest im weiten Umkreis,  ein Tummelplatz von Büffeljägern, Eisenbahnarbeitern, Herumtreibern und Desperados aller Art. Eine Kneipe neben der anderen, zahllose Tanzschuppen von zweifelhaftem Ruf, ganz nach dem Geschmack von Typen wie ´Wild Bill` und anderen, die hier strandeten und häufig ein unrühmliches Ende nahmen.

Das war 1867. Niemand hätte in jenen Tagen wohl einen Cent darauf verwettet, dass Hays zehn Jahre später ein ansehnlicher Handelsplatz sein würde – und Zielort gottesfürchtiger Deutscher aus Russland, die sich von hier aus ihre neue Heimat erschließen würden. Die Militärfestung Fort Hays, die lange Zeit den schlechten Ruf der Stadt mitgeprägt hatte und die zahlreiche Garnisonen im Westen und Südwesten mit Proviant und Waren versorgte, war überflüssig geworden und wurde geschlossen. Der Bundesstaat Kansas war in eine schwierige Lage geraten, monatelange Dürre hatte die Ernten dezimiert, und eine Heuschreckenplage besorgte gerade den Rest. Also verließen viele Menschen Kansas, um anderswo neue Ländereien zu erschließen oder um in der Stadt ein Auskommen zu finden. Da kamen neue Siedler gerade recht, besonders wenn sie was von der Landwirtschaft verstanden und gewillt waren, auch ein wenig Geld in Umlauf zu bringen.

Binnen sechs Jahren wanderten 12.000 Deutsche aus Russland in Kansas ein. 1874 erreichten die ersten 800 Menschen nach rund fünfwöchiger Reise über Odessa, Hamburg und New York ihr Ziel. Die ersten Gruppen von Auswanderern waren Mennoniten aus Südrussland, die im Jahr zuvor eine Erkundungsmission nach Kansas geschickt hatten, um Siedlungsland zu prüfen, die Bodenqualität zu bestimmen und Preisverhandlungen zu führen.

Der Chef des Einwanderungsbüros war zu jener Zeit Carl Bernhardt Schmidt, ein Deutscher aus Sachsen, der 1868 nach Kansas gekommen und inzwischen Mitarbeiter der Santa Fe-Eisenbahngesellschaft war. Mehrere Bahn-Companies hatten Land erworben, das sie nun in großen und kleinen Parzellen an Siedler verkaufen wollten. Überall dort, wo Eisenbahntrassen gelegt worden waren, stiegen die Bodenpreise, und so finanzierten die Bahngesellschaften den Vorstoß nach Westen.

Für Santa Fe war Carl Bernhard Schmidt ein Geschenk des Himmels. Er, der inzwischen gute Kontakte zu den Kolonien der Mennoniten hatte, fädelte zahlreiche Geschäfte zwischen Bahngesellschaft und den Siedlern ein. Die Santa Fe stand zu jener Zeit  offenbar kurz vor dem finanziellen Ruin, und die über 332.000 Dollar, die die russlanddeutschen Siedler in den ersten drei Jahren zahlten – für Land, Transporte und Gebäude -, sollen die Gesellschaft gerettet haben. In Erwartung weiterer Geschäfte transportierte die Santa Fe ganze Kolonien von Einwanderern kostenlos an ihr Ziel, einschließlich Hab und Gut sowie Vorräte für viele Monate.

Die Kansas Pacific, eine andere Bahngesellschaft, räumte russlanddeutschen Händlern 50-prozentige Rabatte für Gütertransporte ein. Grundstücke für Kirchen und Schulen wurden den Kolonien gratis überlassen; auf dem Weg in ihre neuen Siedlungsgebiete beherbergten die Bahngesellschaften die Einwanderer kostenlos. Als 1874 die mennonitische Gemeine aus Alexanderwohl in Südrussland Kansas erreichte, baute eine Bahngesellschaft eigens zwei große Gebäude in der Stadt Newton, in denen die Siedler den ersten Winter verbrachten.

Bessere Kunden als die russlanddeutschen Siedler konnten sich die Geschäftsleute kaum wünschen: sie zahlten bar, verschwendeten keine Zeit mit zähen Verhandlungen und machten stets Großeinkäufe – keine Parzellen, sondern Ländereien, kein Einzelvieh, sondern Herden, ganze Lagerbestände an Vorräten wechselten ihre Besitzer.

Die neuen Siedler kamen nicht unvorbereitet nach Amerika – und sie kamen nicht ohne Geld, jedenfalls nicht die ersten Zuwanderer aus dem Süden Russlands. Die Ländereien in der alten Heimat umfassten nicht selten hundert Hektar und mehr pro Familie, dreimal so viel wie die Deutschen an der Wolga durchschnittlich unter dem Pflug hatten. Viele Kolonien beschäftigten eine große Zahl an russischen und deutsch-mennonitischen Landarbeitern. Eigentlich kein Grund fortzuziehen und auf einem anderen Kontinent ein neues Leben zu beginnen.

Die Ursachen für die Auswanderung sind indes bei weitem nicht nur wirtschaftlicher Art. Zwar war der Weizenpreis nach 1840 mit der aufkommenden Konkurrenz der USA dramatisch gefallen und brachte die Kolonien in schwere Bedrängnis. Hinzu kam, dass der russische Staat manche Privilegien aus früherer Zeit zurücknahm, so die exklusive Lizenz zum Bierbrauen. Überhaupt begann die Obrigkeit nach Ansicht der mennonitischen Gemeinden, sich zu sehr in ihre Angelegenheiten einzumischen – etwa mit dem Dekret über die Landverteilung, wonach wohlhabende Kolonisten Anbauflächen an landlose Gemeindemitglieder abzutreten hatten.

Die mennonitischen Kolonien fürchteten, ihre soziale und wirtschaftliche Autonomie einzubüßen, zumal auch die Befreiung vom Militärdienst ein Ende haben sollte. So kam es, dass sich vornehmlich die wohlhabenden Landbesitzer an die Spitze der Auswanderbewegung setzten.

Für manche waren gewiss auch religiöse Gründe ausschlaggebend, das Land der Geburt zu verlassen. Strenggläubige unter den Mennoniten fürchteten pietistische Einflüsse aus Westeuropa, die in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu Kontroversen und auch zum Auseinanderbrechen von Gemeinden führten. So entsprach es durchaus mennonitischer Tradition, bei Konflikten oder aus anderen Gründen Tochterkolonien zu gründen und an anderem Ort eine neue Existenz aufzubauen.

Viele Möglichkeiten wurden geprüft: Kanada, Brasilien, der Nahe Osten und eben die Vereinigten Staaten. Noch zeigte sich die russische Regierung entgegenkommend und legte den Auswanderern keine Hindernisse in den Weg. Das sollte sich später ändern. Der amerikanische Kongress in Washington hatte zu Beginn der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts über acht Millionen Hektar Prärieland in Kansas zum Verkauf freigegeben mit der Auflage, das Gebiet verkehrstechnisch zu erschließen und Bahnlinien zu bauen. Das hatte sich auch bis Russland herumgesprochen; überhaupt war der nordamerikanische Landstrich für russlanddeutsche Auswanderwillige längst kein Niemandsland mehr.

So wurden die Pläne, auf die andere Seite des Atlantiks zu ziehen, keinen Moment lang aufgegeben, als die russische Regierung Mitte der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts den Mennoniten das Angebot unterbreitete, am Amur-Fluss in Ostsibirien zu siedeln bei freiem Landerwerb, Steuererleichterungen und ohne Pflicht zum Militärdienst. Bernhard Warkentin hatte sich zwar noch mit einer Gruppe Gefolgsleute auf eine Inspektionsreise nach Sibirien begeben, war jedoch enttäuscht zurückgekehrt: Eine Landwirtschaft, die vom Verkauf ihrer Produkte lebte, konnte dort nicht betrieben werden, da weder Transportwege bestanden noch in erreichbarer Nähe Abnehmer der Waren lebten. Überdies, so befand man, waren die Umstände einer Übersiedlung nach Amerika nicht beschwerlicher als die eines Landtransports in das noch unerschlossene Ostsibirien.

Das dachten sich wohl auch die Deutschen an der Wolga, deren Ausreise nach Nordamerika wesentlich risikoreicher war als die der südrussischen Mennoniten. Ihr Weg führte über Bremen nach Baltimore und von dort aus auf dem Landweg in die neuen Siedlungsgebiete. Vielfach waren die Auswanderer Einzelpersonen oder Haushalte, seltener ganze Kirchengemeinden. Zudem waren sie schlechter ausgestattet, hatten bescheidene Geldmittel zur Verfügung und reisten zu einem ungünstigen Zeitpunkt aus.

Die meisten warteten im Auswanderungsjahr 1875 noch Ernte und Verkauf des Getreides ab, um sich die Reisekosten von rund 200 Dollar pro Familie überhaupt leisten zu können. Doch das brachte mit sich, dass ihre Ankunft in die Wintermonate fiel. Auch boten die Eisenbahngesellschaften den Deutschen von der Wolga nicht die gleichen Vergünstigungen wie den Mennoniten.

Die erst Gruppe Wolgadeutscher stammte aus Katharinenstadt (dem späteren Marxstadt), war im Oktober 1875 aufgebrochen und erreichte Ende November die Kansas-Hauptstadt Topeka. Da ihnen die Landangebote der Santa Fe-Eisenbahngesellschaft zu teuer erschienen, erwarben viele im Landkreis Ellis Grundstücke von der Kansas-Pacific, während andere sich das Recht auf ein Grundstück erwirkten, indem sie freie Böden bearbeiteten, einzäunten und später Besitzansprüche anmeldeten („homesteading“). Das war durchaus üblich in Pioniergebieten, wo es Land ohne Besitzer gab.

Ende 1875 hatten sich 1200 Russlanddeutsche von der Wolga, mehrheitlich Katholiken, in den Landkreisen Ellis und Rush angesiedelt, die bis heute die meisten Einwohner Kansas’ mit russlanddeutschen Vorfahren zählen.

Mit den ausgehenden achtziger Jahren verlangsamte sich der Zuzug, jedenfalls kamen nur noch selten Zuwanderer in größeren Gruppen, ganzen Kolonien oder Kirchengemeinden. Die Russlanddeutschen lebten selbstgenügsam in ihren Siedlungsgebieten, die teils große Territorien umfassten mit kompakten Dorfansiedlungen, in denen die Menschen von äußeren Einflüssen weitgehend abgeschirmt waren und so ihre Sprache und ihre Kultur bis in die übernächste Generation bewahrten.

Amerikanische Verhaltensweisen und die englische Sprache setzten sich daher nur langsam durch, zumal die Russlanddeutschen ja schon aus Russland gewohnt waren, sich in einer anderssprachigen Umgebung zu bewähren. 1875 brachte David Görtz in Halstead die erste deutschsprachige Zeitung heraus, zu einer Zeit, da in vielen Städten Kansas’ Zeitungen noch unbekannt waren. Weitere Blätter folgten und trugen Namen wie „Courier“, „Volksfreind“, „Staats Zeitung“, „Zur-Heimath“ oder „Freie Presse“.

Die russlanddeutschen Siedler haben entscheidend dazu beigetragen, Kansas zu einem Agrarzentrum zu machen. Immer wieder wird erwähnt, die Zuwanderer hätten eine bestimmte Sorte Winterweizen mitgebracht und damit den Höhenflug der Landwirtschaft erst begründet. Während andere Siedler kamen und gingen, unstet von Landkreis zu Landkreis zogen, war wohl die bedeutendste Leistung der russlanddeutschen Zuwanderer für den Bundesstaat Kansas die Ausdauer, mit der sie ihr Land entwickelten, auf Bestand angelegte Gebäude – Kirchen, Schulen, Privat- und Gewerbehäuser – errichteten und unterhielten, Dürreperioden überstanden und unverbrüchlich ihr Schicksal mit diesem Teil ihrer neuen Heimat verbanden. (Ulrich Stewen, Berlin)


Nachtrag:

Zur Volkszählung des Jahres 2000 gaben von 2,6 Millionen Einwohnern des Bundesstaates Kansas 868.801 Personen an, deutsche Vorfahren zu haben, 17.734 Personen bezeichneten ihre Vorfahren als russischer Herkunft. Unter den Bevölkerungsgruppen des Territoriums bilden die Deutschstämmigen die größte. Bei der Volkszählung zehn Jahre zuvor gaben 22.887 Einwohner von Kansas an, deutschsprachig zu sein, 893 Personen bezeichneten Russisch als ihre Sprache.


Weitere Fotos zum Artikel


 
Links zum Thema
- Germans from Russia Heritage Society
- Links zu russlanddeutschen Gruppen in USA und Kanada

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in englischer Version

Ulrich Stewen,
A Gift from Heaven

(Übersetzung: Alex Herzog, Boulder/Co.)