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Dunkle Wolken über Bogdaschkino

Das Vorzeigedorf an der Wolga steht vor einer ungewissen Zukunft
Dunkle Wolken über Bogdaschkino Foto: Alexander Wulfert

Seit Anfang der neunziger Jahre ziehen Russlanddeutsche in ein Dorf nahe Uljanowsk an der Wolga. Mit deutschen und russischen Geldern wurden Straßen, Häuser, eine Mittelschule und eine Käserei errichtet. Doch das Dorf Bogdaschkino ist längst nicht mehr so deutsch, wie es einst sein wollte. Die staatliche Förderung läuft aus und die Käserei steht vor dem Ruin.

Von Diana Laarz

Moskau, im Oktober 2010 - Wladimir Bernt ist dreimal so alt wie das Dorf, in dem er wohnt. Er ist einer der Gründerväter, größter Arbeitgeber des Dorfes; die Straße, in der sein Haus steht, trägt den Namen seiner verstorbenen Frau Lidija, der ersten Bürgermeisterin. Er könnte schon längst in Deutschland wohnen, die Einladungen für die ganze Familie sind irgendwo in den Tiefen des Wohnzimmerschranks verschüttet. Wladimir Bernt schüttelt den Kopf. In seiner Stimme vermischen sich der Singsang eines süddeutschen Dialekts mit dem wohlklingenden rollenden russischen R.: „Deutschland gehört den Deutschen“, sagt er, „wir Russlanddeutschen gehören nach Russland.“

Während er spricht, zerren drei Enkelkinder am Ärmel seines Pullovers. Wladimir Bernt wirkt wie ein Mann, der für alle Kinder des Dorfes gern den Weihnachtsmann spielt. Und wie er so da thront, ganz in sich ruhend und über Russlanddeutsche sinniert, könnte man fast vergessen, dass der Betrieb von Wladimir Bernt kurz vor dem Ruin steht.

Bogdaschkino / Foto: Alexander Wulfert

Der Schreibtisch im Büro sieht aus, als habe vor wenigen Minuten noch jemand daran gesessen und gearbeitet. Wilde Stapel aus Papieren aller Größen, auf dem Faxgerät steht ein Bild mit drei Heiligenfiguren, im Regal in der Ecke liegt der lexikondicke Ratgeber „Gesundheit für die Frau“. Wladimir Bernt wankt durch die Räume wie ein Mann, der in seinem Leben schon zu viele Schritte gegangen ist. Vorbei an silberfarbig glänzenden Rohren, Kesseln und Töpfen.

Drei Tonnen Käse, Marke Nowinka, haben er und seine 25 Kollegen in besseren Zeiten hier jeden Tag produziert. Jetzt arbeiten sie manchmal drei Tage lang nicht. Die Milch ist zu teuer, die Konkurrenz zu mächtig. Bis November will Wladimir Bernt auf jeden Fall durchhalten. Was danach kommt - ungewiss.

Von der Molkerei in Bogdaschkino haben deutsche Regierungsvertreter immer gern erzählt, wenn sie zeigen wollten, wie effizient die Förderung der Russlanddeutschen sein kann. Hilfe zur Selbsthilfe im besten Sinne. Der unscheinbare flache Wellblechbau duckt sich am Dorfrand, Blumenrabatten vor dem Eingang. Bald könnte es vorbei sein mit dem russlanddeutschen Wirtschaftswunder.

Kurzarbeit: Wladimir Bernt junior, Sohn des Käsereidirektors
Foto: Diana Laarz

Die deutsche und die russische Regierung haben viel Geld ausgegeben, um für Wladimir Bernt ein Dorf zu bauen. Die Käserei ist aus deutschen Mitteln bezahlt worden. Der russische Staat hat im Rahmen eines Programmes zur Unterstützung ethnischer Minderheiten über ein Jahrzehnt lang ein Eigenheim nach dem anderen in die karge Gegend gepflanzt. Inzwischen sind es über 70.

Die Mittelschule am Dorfrand stände auch einer deutschen Kleinstadt gut zu Gesicht. Sie ist viel zu groß für die Kinder der 520 Einwohner. Die Schüler kommen aus der gesamten Umgebung, 202 sind es inzwischen. Man sieht Bogdaschkino an, dass es zu schnell gewachsen ist. Die weißen unverputzten Häuser, an deren Ecken schon die Steine abbröckeln, wirken wahllos über die Landschaft verstreut. Das alte Dorf Bogdaschkino haben die Planer links liegen gelassen. Im vergangenen Jahr wurden 500 Bäume gepflanzt, um das Dorf wohnlicher zu machen. Nur wenige sind angewachsen.

Für Wladimir Bernt ist die Rechnung ganz einfach. Ein Kilo „Nowinka“ kostet 150 Rubel. Doch seitdem rund um Bogdaschkino eine Kolchose nach der anderen dicht macht, steigt der Milchpreis unaufhörlich – vor allem nach einem Sommer, der die Futterkosten für Milchkühe in die Höhe getrieben hat. Ginge es nach dem Milchpreis, müsste Wladimir Bernt 250 Rubel pro Kilogramm verlangen. Verkaufen würde er die rot verpackten Quader „Nowinka“ dann kaum noch.

Foto: Diana Laarz
Zwar reden die Einwohner von Bogdaschkino stolz von „ihrem“ Käse. Das zählt aber nicht mehr so viel, wenn der fremde Käse in der Supermarkttheke viel billiger ist. Die Käserei ist der größte Arbeitgeber im Dorf, 25 Mitarbeiter im Werk, vier in den beiden kleinen Geschäften. Wladimir Bernt wurde in der Gründerzeit per Akklamation zum Direktor gewählt. Er und seine Familie waren eine der ersten, die sich in Bogdaschkino niederließen. Bis zu den Knöcheln hätten sie damals im Schlamm gestanden, erzählt Wladimir Bernt und lächelt still.

Anfang der neunziger Jahre träumten die Russlanddeutschen von einem deutschen Landkreis an der Wolga. Daraus wurde nichts. Stattdessen entstand in Bogdaschkino ein deutscher Dorfrat, der Russlanddeutsche aus Sibirien und Kasachstan einlud, sich an ihrer Seite niederzulassen. Hunderte folgten. Ganze Nachbarschaften zogen aus Kasachstan Richtung Norden an die Wolga.

Doch auch an Bogdaschkino ist der Wandel nicht spurlos vorbei gegangen. Fast 200 Bewohner haben das Dorf in den vergangenen 20 Jahren Richtung Deutschland verlassen. In diesem Jahr wurde in Bogdaschkino erstmals kein Neubau mehr begonnen. Das Dorf ist seit 2008 nicht mehr Bestandteil des Föderalen Zielprogrammes zur Unterstützung der Russlanddeutschen. Die Minderheit muss auf eigenen Füßen stehen, und es lässt sich kaum vertuschen, dass sie sich damit schwer tut.
Gartenzwerg im Vorgarten / Foto: Diana Laarz

Im Kindergarten lernen die Kinder noch Deutsch, in der ersten Klasse der Grundschule gibt es allerdings keinen Sprachunterricht mehr. „Der Lehrer fehlt“, sagt der Bürgermeister Alexander Rodionow. Warum Bogdaschkino keine Förderung vom Staat mehr bekommt, kann er nicht  sagen. Deutschunterricht für Erwachsene gibt es in dem „deutschen Dorf“ nicht mehr.

Einzig ein einsamer Gartenzwerg in einem Vorgarten deutet darauf hin, dass in Bogdaschkino Frauen und Männer um ihre Identität ringen. Die Menschen in den Nachbardörfern sprechen von Bogdaschkino nicht etwa als „deutsches Dorf“. Sie sagen, es sei die Zivilisation. Weil dort der Asphalt auf der Straße glatt sei. Auch dafür hat der russische Staat bezahlt.

Als Lehrerin ist Ludmilla Wulfert in Deutschland nicht glücklich geworden. Jedes Jahr am 1. September – der Tag des russischen Schulanfangs - saß sie in ihrer Wohnung im nordrhein-westfälischen Hagen und war traurig – arbeitslos, entwurzelt. Ludmilla Wulfert sagt es ein ein bisschen theatralisch-russischer: „Mein Herz hat geweint.“ Fast sieben Jahre lang ging das so. Bis die russlanddeutsche Familie Wulfert das Experiment Deutschland abbrach und sich zur Rückkehr nach Russland entschloss.

Foto: Diana Laaz

In Bodaschkino ist sie nun eine von zwei Rückkehrerfamilien und wartet darauf, dass endlich der letzte Ziegel auf das Dach ihres neuen Hauses gesetzt wird. Zu 80 Prozent steht das Haus von Ludmilla Wulfert, zwei Jahre wartet sie schon. Die Baufirma, die den Zuschlag für die Umsetzung des staatlichen Bauprogrammes bekommen hat, hinkt Jahre hinter dem Plan hinterher.

Ludmilla Wulfert, die Sonnenbrille im dünnen Haar und viel Gold an Hals und Ohren, hat sich für den zweiten Neuanfang in ihrem Leben Bogdaschkino ausgesucht, weil es „tausend Mal besser aussah, als die Dörfer in der Umgebung.“ Vor ihrer Ausreise nach Deutschland hatte sie im deutschen Nationalrayon Asowo in Sibirien gelebt.

Bogdaschkino sei wie Asowo, sagt Ludmilla Wulfert. Die Nachbarn feiern gemeinsam Ostern und Weihnachten. „Deutsch ist das, was wir hier hintragen.“ Das russlanddeutsche Dorf Bogdaschkino ist für Ludmilla Wulfert gerade die richtige Dosis Deutschland. Irgendwas zwischen Hagen und einem urrussischen Dorf. Während der sieben Jahre Deutschland hat sie nur äußerst bruchstückhaft Deutsch gelernt.

Neubau in Bogdaschkino / Foto: Diana Laarz
Ihre jüngste Tochter Michelle – in Deutschland geboren - ist da schon redegewandter. Deshalb war sie es auch, die Anfang September den deutschen Aussiedlerbeauftragten Christoph Bergner mit einem Kuchen in Empfang nahm, als er auf einer Stippvisite vorbei schaute. Bis nach Bogdaschkino kam Bergner allerdings nicht, obwohl er vorher mehrfach den Wunsch geäußert hatte, sich das viel gerühmte Vorzeigedorf einmal anzusehen.

Der Zeitplan war am Ende zu eng. Und so lauschte Bergner im Saal des Nachbardorfs deutschen Volksliedern, während Käsereidirektor Wladimir Bernt in Bogdaschkino vergeblich auf den Besuch wartete. Vielleicht war es ganz gut so. Alles, was Wladimir Bernt hätte zeigen können, wäre ein – zugegebenermaßen adrettes – aber stilles Werk der Russlanddeutschen gewesen. Das einst so siegessicher gestartet war. Und in dem jetzt nur noch gebangt wird.

Der Artikel erschien erstmals in der Moskauer Deutschen Zeitung, Nr. 18 (289), September 2010

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