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Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft

Kollektive Erinnerung prägt ihr Selbstbild
Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft Museum der Russlanddeutschen in Detmold

Russlanddeutsche sind in der Sowjetunion nicht nur Opfer von Entrechtung, Verfolgung und Diskriminierung gewesen. Auch ein „unbändiger Wille zur Freiheit und Gleichheit“ (Krieger) hat sich nachhhaltig ins gemeinsame Gedächtnis eingegraben.

Von Viktor Krieger

Heidelberg, im Februar 2011 - Das Bild der Vergangenheit bestimmt nachhaltig die künftige Entwicklung jeder sozialen, religiösen oder ethno-kulturellen Gruppe. Welche Erlebnisse in der Geschichte haben sich unauslöschlich in das kollektive Gedächtnis der Nachkommen von deutschen Siedlern an der Wolga, auf der Krim oder im Schwarzmeerraum eingeprägt? Das historische Selbstbild der russlanddeutschen Minderheit wird maßgeblich von drei Schlüsselerfahrungen – „Basiserzählungen“ – bestimmt: von Dienst- und Arbeitsethos, von Opfersein und  Widerstand.

Solche geschichtlichen Begebenheiten haben Millionen von Frauen und Männern real erlebt, sie kommen in jeder Familienerzählung, in jeder historischen oder persönlichen Quelle, in jeder Lebenserinnerung, in jedem literarischen oder gesellschaftswissenschaftlichen Werk mit russlanddeutscher Thematik vor.
 
Dagegen spiegeln andere Geschichtsbilder nur kleinere Segmente der erlebten Wirklichkeit wider, so die Mitwirkung manch eines Deutschen im sowjetischen Macht- und Unterdrückungsapparat, das Emigrantendasein einiger Tausend Wolga- oder Schwarzmeerdeutschen im Deutschen Reich nach 1917, Erlebnisse der deutschen Siedler in der Ukraine unter der reichsdeutschen Besatzung, ihre Flucht nach Westen und Rekrutierung in die Wehrmacht, die Nachkriegsgeschichte der in Westdeutschland Verbliebenen seit 1949, aber auch die Verstrickung einzelner Russlanddeutscher in nationalsozialistische Verbrechen.

"Bulletin", die Untergrundausgabe (Samizdat) des Rates der Verwandten von Verhafteten Evangeliumschristen in der UdSSR, aus dem Jahr 1977. Die handschriftlich verfassten Texte wurden auf selbst gebastelten einfachen Hektographen vervielfältigt und unter den Gläubigen und im Ausland verteilt.

Da nur eine relativ kleine Zahl von Personen davon betroffen oder darin verwickelt war, stellen diese Ausschnitte der Vergangenheit nachrangige Bestandteile der Kollektivgeschichte der ethno-kulturellen Gruppe dar. Wesentlich bedeutender sind dagegen herausragende Schlüsselerfahrungen mehrerer Generationen der Russlanddeutschen wie Pioniergeist, Behauptungswille, harte Arbeit, Pflichterfüllung, gegenseitige Hilfe, Verfolgung, Hunger, Opfer von stalinistischen Verbrechen, Diskriminierung, Alltagsentbehrung, aber auch innere Ablehnung und Resistenz, Protest, Opposition und das Aufbegehren bis hin zu bewaffneten Aufständen gegen die Diktatur und den Unrechtsstaat.

Beginnen wir mit einer kurzen Erörterung der erwähnten Schlüsselerfahrungen:

Dienst- und Arbeitsethos

Für das nationale und kulturelle Selbstverständnis der russlanddeutschen Minderheit war der Umstand entscheidend, dass ihre Vorfahren seit Katharina II. in das Russische Reich zur Kultivierung der wenig erschlossenen Gebiete „gerufen“ wurden. Daraus erwuchs ein für damalige Europäer übliches Vasallen-Dienstherren-Verhältnis. Der freie Mann stellt sich in die Dienste seines Herren und beide haben gegenseitige Verpflichtungen.

Gedenkstein vor dem „Deutschen Haus“ in Almaty zum Gedenken an die russlanddeutschen Opfer der Repressalien und des Krieges.
Памяти немцев, ставших җертвами войн, изгнания и лишений – Den Deutschen gewidmet, die Krieg, Vertreibung und Not zum Opfer fielen.

Das war zumeist das Verständnis der eingewanderten Deutschen. Daraus ergaben sich Loyalität, Untertanentreue und Verantwortung, aber auch das Recht auf Auflösung des Dienstverhältnisses, wenn zum Beispiel Herrscher oder Staat ihren Pflichten nicht nachkamen oder sie einseitig verletzten. Das Dienst- und Arbeitsethos (russ. трудовая этика, служба, служение) durchdringt die russlanddeutsche Geschichte, egal, ob der Einzelne als Beamter oder Offizier, Arzt oder Lehrer, Landwirt oder Handwerker seiner Arbeit und Verantwortung gewissenhaft und fleißig nachging.

Das Jahr 1917 brachte das unwiderrufliche Aus der alten Ordnung; danach wurden fast alle bürgerlichen Rechte und Verpflichtungen aufgekündigt und die einst staatstragende beziehungsweise besitzende Schicht der deutschen Minderheit unterdrückt, enteignet und verfolgt. Die bolschewistische Führung versuchte, neue Loyalitäten aufzubauen durch die Förderung von mittellosen Bauern und Industriearbeitern, durch eine nationale Territorialautonomie und anderes, was auch einen gewissen Erfolg vor allem unter der jüngeren Generation zeitigte.

Trotz der weitgehenden Entrechtung nach 1941 sind unzählige Beispiele pflichtbewusster und zuverlässiger Kolchosbauern, Industriearbeiter und Angestellten überliefert worden. Ihr Pioniergeist, ihr Arbeits- und Tatendrang ist den Deutschen selbst unter schweren Strapazen nicht vollends abhanden gekommen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Mitteilung über den Gerichtsprozess gegen den Prediger Johann Steffen aus Issyk, Gebiet Alma-Ata, Kasachstan. Er wurde 1976 zu 5 Jahren Straflager "Verstöße gegen sowjetische Gesetze" verurteilt. Hauptanklagepunkt war, dass er in seiner Gemeinde die Religionsunterweisung von Kindern und Jugendlichen zuließ.

Opfersein

Im Schicksal der Russlanddeutschen spiegelt sich, wie in keinem anderen Volk, der erste Zivilisationsbruch der europäischen Geschichte wider, der mit der Machtergreifung der Bolschewiki gegen die Bürger der Sowjetunion eingeleitet wird und untrennbar mit dem Wort „GULag“ verbunden ist:

- wahllose Erschießungen im Bürgerkrieg;
- Lebensmittelrequisitionen, die den millionenfachen Hungertod 1921-22 verursachten;
- vollständige Enteignung der Bauernschaft;
- Deportationen und Zwangsarbeit für mindestens zwei Millionen wohlhabende Bauern (Kulaken); durch überstürzte Kollektivierung hervorgerufene Hungersnot 1932-33, die erneut Millionen Menschen das Leben kostete;
- rabiate Kirchen- und Glaubensverfolgungen;
- Massenterror mit hunderttausendfachen Justizmorden und Einweisungen von Millionen Menschen in Straflager;
- Deportationen nach 1935 und vor allem nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges etc.

Auf mindestens 20 Millionen Menschen dürfte sich die Zahl der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft in der UdSSR in den ersten drei Jahrzehnten der Sowjetmacht belaufen haben.

Irma Hecker, Szenen aus dem Leben im Lager

Aus vielerlei Gründen mussten Russlanddeutsche unter diesen und anderen Verbrechen in besonderer Weise leiden. Nach einer eher konservativen Rechnung sind im Zeitraum 1917-1948 etwa 480.000 Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer ums Leben gekommen: erschossen, erfroren, verhungert, an Entkräftung und Krankheiten gestorben - eine gravierende Zahl für eine Bevölkerungsgruppe, die Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts rund 1,35 Millionen Menschen zählte.

Die hartnäckige Weigerung der post-stalinistischen Partei- und Staatsführung,  substantielle Wiedergutmachung zu leisten, verhinderte die erhoffte Gleichstellung der Russlanddeutschen mit anderen sowjetischen Völkern, blockierte die Fortentwicklung der eigenständigen Identität und untergrub nachhaltig ihre Loyalität zum Sowjetstaat. Besonders schlimm wirkten sich die germanophobe Regierungspolitik und die insgesamt deutschfeindliche Einstellung eines beträchtlichen Teils der russischen, ukrainischen und anderen Nachbarvölker aus.

Aufgrund der verhängten Informationsblockade über Geschichte und Kultur der „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ wurden sie oft für tatsächliche oder erfundene Untaten des NS-Regimes als „deutsche Faschisten“ in Haft genommen. Dies ging mit moralischer Abwertung einher und führte zu schweren psychischen Belastungen der Betroffenen.

Irma Hecker, Szenen aus dem Leben im Lager

Widerstand

Nicht nur die Opfererfahrungen prägen das Verhalten der russlanddeutschen Minderheit, sondern in nicht minderem Maße der Wille zu Freiheit und Gleichheit. Als Reaktion auf Diskriminierung und Verfolgung entstanden vielfältige Formen der Ablehnung und Verweigerung, des Aufbegehrens und Widerstandes: von bewaffneten Bauernrevolten Anfang der 1920er Jahre über die religiöse Opposition bis hin zu mutigen Protestschreiben an Behörden und Presseorgane in den sechziger und siebziger Jahren.

Vor allem die Emigrationsbewegung war in all den Jahren Zeichen des  Freiheitswillens, das die ideologischen Säulen der sozialistischen Gesellschaftsordnung (Internationalismus, Völkerfreundschaft etc.) in den Augen nicht nur der sowjetischen Bevölkerung, sondern auch der ausländischen Öffentlichkeit bloßstellte.

Überdurchschnittlich viele Russlanddeutsche nahmen nach 1917 an Protestaktionen teil und trugen nicht unwesentlich zur Diskreditierung und letztendlich zum Zusammenbruch des Unrechtsstaates UdSSR bei. Ihr Ungehorsam und ihre Widersetzlichkeit war eine ständige Herausforderung für die sowjetische Führungsschicht.

 

 

Zum Autor:

 

Viktor Krieger wurde 1959 in Dschambul/ Kasachstan geboren und siedelte 1991 nach Deutschland aus. Er ist Lehrbeauftragter am Seminar für Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg. Seit den achtziger Jahren beschäftigt er sich mit der Politik-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Deutschen in Russland.

Angesichts der ungesühnten Verbrechen und der fortdauernden Benachteiligungen haben sich die meisten Angehörigen der Minderheit entschlossen, nach Deutschland auszusiedeln.

Fazit: Kollektive Erlebnisse der Verfolgung, Diskriminierung und gesellschaftlichen Ausgrenzung sind für das historische Bewusstsein der Russlanddeutschen genauso konstitutiv wie die des Protestes und des Widerstandes gegen das kommunistische Regime. Die historischen Erfahrungen der rund 2,8 Millionen Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft verschiedener Generationen bilden nicht nur die Grundlage einer eigenen Identität, sondern sind auch zu einem Mosaikstein der deutschen Geschichte geworden. Daher ist es von großer Bedeutung, dass diese Vergangenheit als Teil der deutschen und der europäischen Erinnerungskultur zunehmend wahrgenommen wird.
 
Links zum Thema
- Viktor Krieger, „Die identitätsstiftende Funktion geschichtlicher Erfahrungen“
- Viktor Krieger, „Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft“
 
Ihre Meinung

Martin, 26.02.2011 20:12:05:

Vielen Dank fuer diesen Beitrag.


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Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung des noch unveröffentlichten Manuskripts „Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft: historische Schlüsselerfahrungen und kollektives Gedächtnis“