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„Zuhause fremd“

Die zwei Welten der Russlanddeutschen
„Zuhause fremd“ Buchcover "Zuhause fremd"
Foto: transcript Verlag

Bielefeld (ORNIS) - Die ‚Lebenswelten der Russlanddeutschen’ beschreibt ein soeben erschienener Sammelband mit dem Titel „Zuhause fremd“. Durch die Gegenüberstellung von Beiträgen russischer und deutscher Autoren lässt das Herausgeber-Duo Sabine Ipsen-Peitzmeier und Markus Kaiser ein vielschichtiges Bild von Aussiedlern in Deutschland entstehen.

Das „doppelte“ Fremdsein: Russlanddeutsche fühlen sich in ihren Herkunftsländern häufig als ‚Deutsche’ und in ihrer neuen Heimat Deutschland als ‚Russen’. Spätaussiedler seien so ein gutes Beispiel, dass sich Migration heute anders gestaltet als früher. Einwanderung wird von den Autorinnen und Autoren des Bandes als komplexer und ergebnisoffener Prozess begriffen: „Russlanddeutsche sind folglich keine Heimkehrer mehr, sondern Transmigranten, die einer translokalen Migrationgemeinschaft angehören, deren Netzwerke zwischen Deutschland und den Herkunftsländern verlaufen“, schreibt der Soziologe Markus Kaiser.

Die Aufsätze erweitern den Blick auf die öffentliche Debatte, die heute noch immer recht einseitig über die Russlanddeutschen geführt wird. So untersucht der Sozialwissenschaftler Joachim Brüß die persönlichen Kontakte zwischen einheimischen Jugendlichen und jugendlichen Aussiedlern. Er kommt zu dem Schluss, dass - wie andere Einwanderer auch - junge Russlanddeutsche zunächst Umgang mit der eigenen Gruppe suchen, aber dann auch Kontakt zu den Deutschen ihrer Altersgruppe finden. „Für die Aussiedler-Jugendlichen deutet die derzeitige Entwicklungsperspektive auf eine zunehmende soziale Integration hin“, meint Brüß.

Dass die Koloniebildung für die russlanddeutschen Aussiedler eine Chance im Integrationsprozess ist und kein Leben im ‚Ghetto’ bedeutet, unterstreicht Hans-Werner Retterath, stellvertretender Leiter des Johannes-Künzig-Instituts in Freiburg. In seiner Untersuchung kommt er zu dem Ergebnis, dass ethnische Siedlungskonzentrationen Entfremdung und Minderwertigkeitsgefühl auffangen können. Die Kolonie- und Netzwerkbildung hat vorerst eine Schutzfunktion gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Sie verhindert eine Integration aber nicht. Retterath: „Kolonien bieten deshalb im Hinblick auf die Mehrheitsgesellschaft neben integrationshemmenden auch integrationsfördernde Elemente.“

Etwas rigoroser urteilt die russische Wissenschaftlerin Maria Savoskul über ihre ehemaligen Landsleute. Sie untersucht, wie sich die rund zwei Millionen Aussiedler in Deutschland selbst definieren. Bei ihrer Recherche stößt sie auf drei Typen: Die Russlanddeutschen, die sich als „echte Deutsche“ verstehen und vor 1988 in die Bundesrepublik gekommen sind. Für Neuankömmlinge stellen sie kaum eine verlässliche Integrationshilfe dar. Hilfreicher für die Integration sind jene Russlanddeutsche, die sich bewusst als zweier Welten zugehörig definieren. Sie vermitteln den Ankommenden die Werte und Normen der deutschen Gesellschaft. Als dritten Typ findet Savoskul Spätaussiedler, die Distanz halten und auf deutsche Strukturen und Angebote lediglich zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz zurückgreifen. „Die Russlanddeutschen des dritten Typs sind am zahlreichsten“, konstatiert die Moskauer Soziologin.

Der neuralgische Punkt bei der Integration der Russlanddeutschen ist die deutsche Sprache. Die Politologin Dorothea Brommler betont, dass sich der Aussiedler-Typ entscheidend verändert hat und meint: „Die Menschen sprechen kaum noch Deutsch, sich fast gar nicht mehr europäisch geprägt, ihre Denk- und Lebensweise unterscheidet sich in vielem von der in Deutschland, und ihre beruflichen Qualifikationsstrukturen sind auf dem bundesdeutschen Markt kaum zu verwerten.“ Die deutsche Politik hat darauf reagiert, nicht allein mit dem Zuwanderungsgesetz, sondern vor allem mit der Einführung von Sprachtests für Aussiedler und weiteren Integrationshilfen in Deutschland.

Ob durch die Sprachtests die Integration der Russlanddeutschen in die deutsche Gesellschaft erfolgreicher wird, lässt sich bislang kaum wissenschaftlich fundiert sagen. Die Tendenzen und Probleme, die der Sammelband aufzeigt und verdeutlicht, bleiben weiterhin aktuell und ein wichtiger Forschungsgegenstand. Es geht darum, mehr über jene Deutschen zu wissen, die sich weder in Russland noch in Deutschland ganz zu Hause fühlen. Nur so können die Deutschen ihre ‚Landsleute’ aus den Osten besser verstehen. (© ORNIS/Wilhelm Siemers, 22. November 2006)


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