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Neue Konzepte, alte Widersprüche

Der mühsame Weg zu einer Politik der Vielfalt - Teil 3
Neue Konzepte, alte Widersprüche Foto: Ulistx/Fotolia

Das Dauerthema "Integration"

Wenn man Intercultural Mainstreaming und Diversity Management als alle Lebensbereiche organisierende Prinzipien ernst nimmt, dann entsteht das utopische Bild einer Gesellschaft, in der die verschiedenen Interessen und Anliegen aller hier lebenden Menschen bei allen Entscheidungen berücksichtigt werden, und zwar in allen gesellschaftlichen Teilsystemen. Langfristig gesehen könnte damit eine Alternative eröffnet werden zu dem jahrzehntelang vorherrschenden "leitkulturellen" Zwang zur Assimilation an die deutsche Mehrheitsgesellschaft und daraus resultierenden Segregationseffekten. Voraussetzung dafür wäre die grundsätzliche Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft, Ressourcen und Macht zu teilen und partizipative Elemente systematisch in den politischen und administrativen Prozessen zu verankern.

In einer solchen Diskussion müssten aber auch die politisch-ökonomischen Entwicklungen der letzten 20 Jahre berücksichtigt werden, also der Abbau staatlicher Leistungs- und Sicherungssysteme, die "Verschlankung" des Staates, die Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen und die kontinuierliche Ökonomisierung der Lebensbereiche. Denn wenn die "neue Sensibilität" für Vielfalt eine emanzipatorische Wirkung entfalten soll, darf sie nicht zur Regulierung einer immer individualistischer werdenden Gesellschaft instrumentalisiert werden.6

Ob es eine Bereitschaft gibt, in diesem Sinne Ressourcen und Macht zu teilen, ist allerdings fraglich. Wenn man den derzeitigen "Integrationsdiskurs" mit Integrationsgipfel, Islamkonferenz, nationalem Integrationsplan, "Charta der Vielfalt"-Initiative, "Europäischem Jahr des interkulturellen Dialogs" und vielen anderen Aktivitäten verfolgt, drängt sich der Eindruck auf, dass es vor allem um die Selbstvergewisserung einer Mehrheitsgesellschaft geht, die nach jahrzehntelangen Versäumnissen in der Migrationspolitik nun zur Tagesordnung übergehen und sich in Sachen "Weltoffenheit" ein gutes Zeugnis ausstellen will. Seit dem Memorandum des Ausländerbeauftragten Heinz Kühn von 1979 sind viele Seiten Papier mit Erklärungen zur Integrationspolitik bzw. zur interkulturellen Öffnung bedruckt worden.

Die Rede von der "Querschnittsaufgabe Integration" ist inzwischen fester Bestandteil der migrationspolitischen Verlautbarungen von Regierung und Behörden geworden. Die endlose Beschäftigung mit dem Dauerthema Integration hat der Publizist Mark Terkessidis 2006 auf die schöne Formel "Und täglich grüßt das Integrationspapier" gebracht. An wohlklingenden Absichtserklärungen herrscht kein Mangel, trotzdem kommt die politische und gesellschaftliche Gleichstellung von Migrantinnen und Migranten nicht voran, wie der "7. Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland" von Staatsministerin Böhmer im Dezember 2007 erneut gezeigt hat.

Auf dem "Migrant Policy Group Index", der vom British Council und der Migrant Policy Group alle zwei Jahre für 27 europäische Länder sowie Kanada erstellt wird, nimmt Deutschland derzeit mit Platz 14 einen bescheidenen Platz im Mittelfeld ein - hinter Portugal, Belgien, Italien, Spanien, Slowenien und Luxemburg. Man möchte "ein bisschen Vielfalt", ohne deshalb die monokulturelle Verfasstheit der bundesdeutschen Gesellschaft grundlegend zu verändern. Die Sozialwissenschaftler Hagen Kordes und Ülger Polat haben diese Konstellation als "Paradoxon zwischen faktischer interkultureller Verschließung bei gleichzeitigem Wunsch nach interkultureller Öffnung" bezeichnet.7

Abschottung statt Auseinandersetzung

Den Status quo in Sachen "Integration" und "interkulturelle Öffnung" könnte man als "defensive Modernisierung" charakterisieren - das Thema wird immer wieder neu aufbereitet, schrittweise werden einige Verbesserungen eingeräumt und gleichzeitig gesetzliche Verschärfungen vorgenommen (wie zuletzt bei der Verabschiedung des "Richtlinienumsetzungsgesetzes" im August 2007). Aber eine grundlegende Diskussion über die Beseitigung von Ungleichheit wird nicht vorangetrieben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum das defensive Beharren auf gesellschaftlich überholten Positionen, verbunden mit nur widerwillig vorgenommenen Reformschritten, seit vielen Jahren das vorherrschende Paradigma politischen Handelns in Deutschland ist, insbesondere im Bereich der Migration.

Sind Ungleichheit, Desintegration und Ausgrenzung (nicht nur von Migrantinnen und Migranten) aus Sicht der meisten politischen Entscheidungsträger "funktional" und damit erwünscht - sei es aus ökonomischen, ethnisch-traditionalistischen, "standortnationalistischen" oder wahltaktisch-populistischen Motiven? Oder hat sich in den letzten Jahren in der "Mitte" der Gesellschaft eine kulturalistische Denkweise verfestigt, der zufolge die "Identität" der Mehrheitsbevölkerung nur durch Abgrenzung von den "Anderen" bewahrt werden kann?

Ein Schritt in die richtige Richtung könnte darin bestehen, dass die politische Klasse die historische Verantwortung für eine Politik übernimmt, die seit den 1950er Jahren zu einer sozial-ökonomischen "Unterschichtung", zur systematischen Bildungsbenachteiligung und dem weitgehenden Ausschluss von politischen Mitwirkungsrechten von Menschen mit Migrationshintergrund geführt hat. Damit müsste eine Anerkennung für die Verdienste verbunden sein, die Migrantinnen und Migranten trotz widriger Rahmenbedingungen in West- und Ostdeutschland geleistet haben.

Des Weiteren sollten - im Sinne des Intercultural Mainstreamings - Maßnahmen ergriffen werden, damit die fortwährende Aufspaltung in "wir" und "sie" endlich aus den Köpfen verschwinden kann. Wer hier geboren wurde, seit langer Zeit hier lebt oder Asyl bzw. Zuflucht in Deutschland sucht, gehört zu dieser Gesellschaft, unabhängig von seinem Herkunftsland und seinem kulturellen Hintergrund.

Trotz der fortschreitenden Aufspaltung der Gesellschaft in Inklusions- und Exklusionszonen bleibt zu hoffen, dass sich ein größeres Verständnis für soziale und kulturelle Vielfalt entwickeln und die Debatte über Migration, Integration und Partizipation in diesem Sinne weitergeführt wird.

Fortsetzung Teil 4


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Das Kulturmagazin "nah & fern" berichtet über Migration, Partizipation und benachbarte Themen in Politik, Arbeitswelt, Gesellschaft und Kultur. Zentral ist dabei die Frage, ob und inwiefern Migrantinnen und Migranten gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben in Deutschland und anderen Ländern teilhaben können.

Die erste Ausgabe von "nah & fern" erschien noch in der "alten" DDR im Sommer 1989 zum Kirchentag in Leipzig. Zunächst herausgegeben vom Ökumenisch-Missionarischen Zentrum Berlin-Ost, beteiligte sich ab der zweiten Ausgabe das Evangelisch-Lutherische Missionswerk Leipzig (LMW) an der Herausgabe der Zeitschrift. Seit November 2005 erscheint die die Zeitschrift im von Loeper Literaturverlag.

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