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Eine Krankheit, die es nicht gibt

Unter Aussiedlern ist Aids kein Thema
Eine Krankheit, die es nicht gibt die Hautklinik an der Universität München
Foto: privat

München (ORNIS) - Zwei Jahre lang litt das Ehepaar an krankhaften Hautveränderungen. Schließlich fassten beide sich ein Herz und gingen zum Arzt. Doch wohl war ihnen dabei nicht. Der Krankheitsherd lag unseligerweise genau da, worüber zu sprechen sich ihnen verbot. Beim Thema Sexualität fehlen Zugewanderten aus Russland und Kasachstan häufig die Worte. In der Münchner Universitätsklinik für Hauterkrankungen kam die Diagnose für die beiden Aussiedler deshalb spät, womöglich zu spät. Ein Test bestätigte: Aids.

„Wir haben immer wieder das Problem, dass die Aussiedler sehr spät zu uns kommen und meistens schon mit einem ganz schlechten Immunsystem“, sagt Stefan Zippel. Der 47-jährige Psychologe und Humanbiologe leitet die Aids-Beratungsstelle an der Hautklinik der Universität München. Vor fünf Jahren kamen zum ersten Mal Ratsuchende aus Osteuropa zu ihm. Mit den Jahren ist die Lage unverändert geblieben: Kaum jemand unter den Spätaussiedlern weiß mit der Krankheit etwas anzufangen, hat Kenntnis über Ansteckungswege, ist informiert über Behandlungsmöglichkeiten. Erschwert wird die Situation dadurch, dass HIV und Aids häufig mit einem zügellosen Leben in Verbindung gebracht werden. „Wir sind anständige Leute“, heißt es immer wieder. Den notwendigen Fragen des Arztes begegnen viele mit Misstrauen und Abwehr. Dass sie in München überhaupt beraten werden können, ist dem glücklichen Umstand zu danken, dass ein russischer Gastarzt in der Klinik arbeitet und mit den russlanddeutschen Patienten russisch sprechen kann.

Es ist nicht nur die Sprache, die Vertrauen schafft. Die Ärzte wissen auch, dass es in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion als anstößig gilt, über Sexualität, erst recht offen über Aids zu reden. Das Tabuthema kann auch nicht in dem „sonst wirklich engen Zusammenhalt in den Aussiedlergemeinden“ (Zippel) angesprochen werden. „Nach der Diagnose HIV-infiziert stürzen die Russlanddeutschen psychisch gesehen in ein ganz tiefes Loch.“ Ein Ehepaar zum Beispiel, das wegen Hautausschlägen in die Klinik kam und dann die Diagnose HIV-Infektion erhielt,  „steht mit dem Testergebnis vollkommen alleine da. Sie können auf keinen Fall in ihre Gemeinschaft zurückgehen und sagen, wir sind HIV-infiziert.“ Auch die Befürchtungen, dass sich andere anstecken könnten, bleiben selbst unter Familienangehörigen unausgesprochen. In der psychosozialen Beratung versuchen die Ärzte, Ängste und Sorgen im persönlichen Gespräch aufzufangen.

Letztlich wollen die Berater mit ihrer Arbeit noch mehr erreichen: Alle Spätaussiedler in Deutschland - nicht nur HIV-Infizierte und an Aids Erkrankte - sollten bessere Kenntnis davon haben, was es mit dem Virus auf sich hat, wie man sich anstecken kann und dass der Ausbruch der Krankheit heute mit Medikamenten aufgehalten werden kann. Wenn Ratsuchende nach der Diagnose häufig keinen Ausweg mehr sehen, dann liegt auch das an fehlenden Kenntnissen in Sachen Aids. Zippel: „Für viele heißt HIV gleich Aids, gleich Tod.“ Doch HIV bedeutet heute kein Todesurteil mehr.

Die Arbeitsgruppe will die Aufklärungsarbeit über die Münchner Beratungsstelle hinaus tragen. „Wir versuchen gerade, uns mit verschiedenen Aussiedlerorganisationen zu vernetzen und die Betroffenen an ihren Wohnorten zu erreichen“, sagt Zippel. Ein erstes Treffen, bei dem sich die Teilnehmer in russischer Sprache über HIV, Sexualität und Schwangerschaft beziehungsweise Verhütung austauschen konnten, hat  im Juni stattgefunden.  „Zehn Leute waren da, obwohl es bei der Tabuisierung des Themas für sie gewiss ein Riesenschritt war, überhaupt zu kommen.“ Die Reaktionen der Teilnehmer waren so ermutigend, dass jetzt versucht werden soll, ähnliche Treffen in Aussiedlerheimen anzubieten und die Gründung von Selbsthilfegruppen anzuregen. Die Münchner Beratungsstelle arbeitet auch mit „connect plus“ zusammen, einer Nichtregierungsorganisation, die sich unter anderem mit der Situation in Osteuropa beschäftigt und Informationen über HIV und Aids in russischer Sprache anbietet.

Die wenigsten wissen, wie sie sich angesteckt haben - oder sie wollen nicht darüber reden. In Russland und anderen Staaten der früheren Sowjetunion gilt der Drogenkonsum, das heißt der mehrfache Gebrauch derselben Spritze, als der häufigste Weg der Übertragung des Virus. „Diese Menschen haben auch eine Sexualität, und stecken ihre Partner an“, gibt Zippel zu bedenken. In der Münchener Klinik hat man die Erfahrung gemacht, dass die Infektion unter Spätaussiedlern seltener mit Hepatitis (Gelbsucht) einhergeht, die beim Drogenkonsum leicht erworben werden kann. Darüber zu sprechen und über die Wirkung von Kondomen als Schutz vor Ansteckung ist für die Berater nicht einfach. 112 HIV-infizierte Spätaussiedler sind laut Zippel in Deutschland bekannt, weil sie den Mut hatten, sich einem Test zu unterziehen. Niemand weiß allerdings, wie hoch die Zahl der Infizierten und Erkrankten wirklich ist. Auffallend ist, dass unter den betroffenen Aussiedlern das Verhältnis von Männern zu Frauen nahezu ausgeglichen ist. Bei den einheimischen Deutschen liegt das Verhältnis etwa bei 80 Männern zu 20 Frauen.

„Alles in allem aber wissen wir noch viel zu wenig über Defizite und Informationsbedürfnis der Aussiedler“, gesteht Zippel. Das soll sich ändern. Unter seiner Leitung beschäftigt sich derzeit ein Forschungsprojekt mit dem Wissensstand von Patienten aus Osteuropa zum Thema HIV/Aids, bei dem Spätaussiedler systematisch befragt werden sollen. Begleitet wird das Projekt von der litauischen Soziologin Laura Kouznetsov, deren Moskauer Ehemann derzeit Gastarzt an der Hautklinik ist.

Zwei Jahre werden beide noch in München sein. Wenn sich dann wieder russischsprachige Kollegen finden, die sich für das Thema interessieren, kann die Aussiedler-Beratung fortgeführt werden, sagt ihr Leiter. „Es hängt auch immer von Personen ab, ob die Arbeit erfolgreich ist.“ Das gelte auch für die Aufklärungsarbeit durch die Aussiedlervereine und –organisationen selbst. Politik und Behörden jedenfalls zeigten sich begeistert von dem Engagement, berichtet Zippel. „Macht weiter“, heißt es dann häufig, „aber Geld können wir euch nicht dafür geben - es ist keines da.“ (© ORNIS, 13. September 2005)


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