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Das kurze neue Leben von Iwanowskoje

Wie ein deutsches Dorf an der Wolga zum Medienereignis wurde
Das kurze neue Leben von Iwanowskoje Nina Shukova, eine der letzten Einwohnerinnen von Iwanowskoje
Foto: Eugen. E. Miller

Uljanowsk (ORNIS) - Undenkbar: Ein deutsches Dorf an der Wolga bezahlt pünktlich seine Stromrechnung – regelmäßig. Offenbar keine Selbstverständlichkeit, wenn die russische Agentur Itar-Tass dem Fall eigens eine Meldung widmet; und Scharen von Journalisten machten sich auf den Weg, um Licht in das seltsame Gebaren der Dörfler zu bringen. Sie trafen auf eine Handvoll Deutscher aus Kasachstan, die einst mit großen Hoffnungen an die Wolga gezogen waren. Eine Ortsbesichtigung von Eugen E. Miller.

Rund hundert Kilometer von Uljanowsk, einer Stadt an der mittleren  Wolga, liegt - in malerischer Gegend von sanften Hügeln und Wäldern umgeben - Iwanowskoje. Die Ortschaft mit dem russischen Namen ist in der Nachbarschaft jedoch besser als ‚das deutsche Dorf’ bekannt. Fünf Familien leben noch hier, alle anderen sind nach und nach weggezogen.

Vor 16 Jahren kamen die ersten russlanddeutschen Aussiedler vornehmlich aus Kasachstan und Kyrgyzstan. Die neu erworbene Freiheit machte es möglich. Und mit der Hoffnung auf Wiederherstellung der deutschen Autonomie an der Wolga strebten viele russlanddeutsche Familien eben hierher und nicht nach Deutschland, das ihnen damals unbekannt und fern schien.

Sie hatten den Wunsch, an der Wolga neue deutsche Dörfer zu bauen, starke landwirtschaftliche Genossenschaften zu gründen und mit der Zeit westliche Produktivität und Lebensbedingungen auf dem Land zu erreichen. „Die örtliche Verwaltung freute sich sehr darauf“, erinnert sich Eugen N. Miller, der damals Professor an der Pädagogischen Universität in Uljanowsk war und zugleich Vorsitzender der örtlichen russlanddeutschen ‚Wiedergeburt’. Viele Dörfer waren zu jener Zeit bereits verfallen, manche waren menschenleer; und die Leiter der Kolchosen glaubten, die russlanddeutschen Neusiedler würden neues Leben bringen.
 
Im Gegensatz zu Saratow und Wolgograd hatte die Bevölkerung in Uljanowsk nichts gegen rückkehrende Russlanddeutsche. Ein Projektplan sah für die Deutschen den Bau von zehn Dörfern vor, die Modellcharakter für die Landwirtschaft im Gebiet Uljanowsk haben sollten. Für ein solch ehrgeiziges Projekt hatte die Gebietsverwaltung allerdings kein Geld. Die Mittel kamen denn auch unerwartet von höchster Stelle aus Moskau - 20 Millionen Rubel. Der Durchschnittslohn lag zu jener Zeit bei rund 200 Rubel pro Monat, und ein Lada kostete etwa 9000 Rubel.

Doch die Anfangseuphorie schwand schnell. Die Überweisungen aus Moskau erhielt die von Russlanddeutschen gegründete ‚AG Sojus’, die diese Summe „einfach nicht verdauen konnte“ (Miller). Dem Zerfall der Sowjetunion folgten die Stagnation der Wirtschaft, die Privatisierungswelle, eine enorme Inflation – kurz: das Chaos. Die zuständigen Behörden verloren die Kontrolle über die gegebenen Geldmittel, und nach zwei Jahren war das Geld weg, ohne die gesetzten Ziele erreicht zu haben: Ein einziges Dorf war zu gerade mal 20 Prozent fertig gestellt, zwei weitere steckten immerhin in der Planungsphase.
 
Eines dieser beiden Dörfer ist Iwanowskoje. Als kein Geld mehr da war, waren drei Häuser gerade beziehbar und 25 zugereiste Familien warteten auf eine Unterkunft, um den bevorstehenden Winter nicht unter freiem Himmel verbringen zu müssen. Zur Linderung der Not schickte die deutsche Regierung 20 neue Wohncontainer nach Uljanowsk.

Das half den Menschen sehr, dem Dorf selbst aber nicht. Die Probleme der folgenden Jahre - Inflation, Missernten und immer noch kein eigenes Dach über dem Kopf - raubten den Umsiedlern allmählich die Hoffnung auf eine Zukunft in Iwanowskoje. Die ab 1992 tätige landwirtschaftliche AG ‚Neues Leben’ stellte schon zwei Jahre später ihre Arbeit ein. Der letzte Vorsitzende reiste bald danach nach Deutschland aus. Was an technischem Gerät übrig geblieben war, wurde verkauft, um Restschulden zu begleichen.

 

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Wolgadeutsche bezahlen Strom

Moskau - Die Zahlungsmoral deutschstämmiger Siedler hat in Russland für Aufsehen gesorgt. Im Gebiet Uljanowsk an der Wolga habe das Dorf 'Neues Leben' seit sieben Jahren alle Stromrechnungen beglichen, meldete die Nachrichtenagentur Itar-Tass am Freitag. Alle anderen Siedlungen in dem Bezirk von der Größe Nordrhein-Westfalens seien mit insgesamt 4,2 Milliarden Rubel (120 Millionen Euro) im Verzug. Als Erklärung hieß es, die Deutschen hätten zuvor in Kasachstan gewohnt - ohne Strom und Heizung. Deshalb wüssten sie die Annehmlichkeiten jetzt zu schätzen. (dpa nach Itar-Tass)

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Gerade noch fünf Familien sind geblieben. Nina Shukowa kam damals aus Kasachstan hierher mit ihrem Mann, zwei Söhnen und der Tochter. Sie ist Russin und war in der AG ‚Neues Leben’ als Buchhalterin tätig. Wie steht es also um die angeblich besondere Disziplin der Leute im Dorf, ihre Stromrechnung pünktlich zu bezahlen? „Ich kann nicht begreifen, warum man in russischen Massenmedien so viel Lärm darum gemacht hat“, sagt sie. „Das ist doch selbstverständlich. Es ist auch Unsinn, dass wir in Kasachstan kein Licht und keine Heizung hatten, und deshalb hier jetzt pünktlich zahlen, wie man behauptet.“

Einmal in Fahrt, ist Nina Shukowa kaum zu stoppen: „Wir lebten dort viel besser, in einem deutschen Dorf, wo alle Wege asphaltiert waren und unsere Kolchose wohlhabend. Nie hätte ich mir vorstellen können, bevor ich hierher gekommen bin, dass man in Russland so schlecht lebt, dass hier alles so verfallen ist, dass die Dörfer so schmutzig sind und dass die Leute eine ganz andere Mentalität haben. Ich bin keine Deutsche, aber ich habe mich an ein Leben in einem deutschen Dorf gewöhnt. Dort hatten wir ein echtes Kulturleben, hier gibt es sogar in größeren Dörfern nicht mal einen Klub.“

Und warum hat sie mit ihrer Familie Kasachstan verlassen? „Ganz einfach. In unserem deutschen Dorf in Kasachstan gab es mit der Zeit keine Arbeit mehr, und meine Kinder wollten nach Russland. Was sollte ich tun?“

Heute gibt es in Iwanowskoje sieben Häuser. Zwei der einst heiß begehrten Gebäude sind verlassen und stehen leer. Die wenigen Dorfbewohner züchten und verkaufen Vieh, etwas Milch, was übrig bleibt, und versuchen, in der Umgebung Arbeit zu finden, um „lebendiges Geld“ zu bekommen. Bald werden wohl auch sie fortziehen, meint Nina Shukowa. Im Winter ist es besonders schwer. Dann gibt es kein Wasser, weil die Leitung schon alt und zugefroren ist. Die Straße zum Dorf ist so hoch verschneit, dass kein Auto mehr durchkommt.

„Die Leute aus den Nachbardörfern“, lächelt Nina Shukowa traurig, „warten nur darauf, dass wir wegfahren. Sie sagen es selbst. Dann werden sie kommen und unsere Häuser abreißen, um Baumaterial für ihre eigenen zu haben. Wollen sie meine Meinung hören? Hier wird es wohl kein ‚Neues Leben’ mehr geben.“ (© ORNIS/Eugen E. Miller, 10. Januar 2007)


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