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„Wenn ich die Augen schliesse, bin ich in Deutschland“

Die kurze Deutschlandreise der Erna Korbmacher
„Wenn ich die Augen schliesse, bin ich in Deutschland“ wieder in Asowo: Erna Korbmacher
Foto: Christina Wittich

Für Erna Korbmacher hatte sich endlich ihr Lebenstraum erfüllt: nach Deutschland aussiedeln. Ihre Kinder würden bald nachkommen. Dann kam alles ganz anders. Wenige Monate später kehrte sie wieder zurück nach Sibirien. Nicht etwa, weil sie es nicht gut angetroffen hatte in Deutschland. Erna Korbmacher wollte einfach nicht vor der Zeit an Heimweh sterben. Heute sagt sie: „Ich habe versucht, dort zu leben, aber es ist einfach nicht meine Heimat.“

Asowo, 4. November 2007 - Erna Karlowa Korbmacher ist aufgeregt. „Ach, ein Foto“, sagt sie und wird rot. „Da muss ich mir doch etwas Hübsches anziehen.“ Mit flinken Schritten trippelt die alte Dame durch das Wohnzimmer. Ein breites, niedriges Zimmer. Samtige Sofas nebeneinander, bunt bemustert, Kissen, Decken darauf gestapelt – wer sich da hinein setzt, versinkt wahrscheinlich tief im bunten Plüschmeer. Ein großer Fernseher in massiver Anbauwand. Dahinter, winzig, ein weiß-blaues Zimmerchen. Ein Bett, steife, weiße Kissen mit tiefem Knick in der Mitte, die Bettdecke ordentlich glatt gezogen. Gegenüber ein Schrank.

Davor nun steht Erna Karlowa und zieht sich hastig um. Raus aus der Kittelschürze. Das Kopftuch abgestreift. Die gute rote Bluse unter das schwarze Kleid gezogen. Mit den Händen noch einmal die Haare zurecht gestreift, den Zopf gerade gerückt. Frau Korbmacher strahlt.

"Verstehen Sie mich überhaupt?"

Sie muss einmal ein sehr hübsches Mädchen gewesen sein: Die Rundungen am richtigen Fleck, dichtes, dunkelblondes Haar, blaue Augen und ein spitzbübisches Lächeln. Von der einstigen Schönheit ist heute noch etwas zu erkennen, wenn Erna Karlowa lächelt. Silberne Zähne glitzern im Mund. Mit ihren 80 Jahren ist sie  eben auch nicht mehr die Jüngste. Wenn sie spricht, klingt es wie eine Mischung aus Bayrisch und Jiddisch. „Verstehen Sie mich überhaupt“, fragt sie. Natürlich. „In Deutschland war das eine ganz andere Sprache, die die da gesprochen haben“, erklärt sie.

Vor drei Jahren hatte sie versucht, sich ihren Lebenstraum zu erfüllen: Einmal nach Deutschland reisen. Vielleicht dort bleiben und sterben. Da war sie 77 Jahre alt. Geblieben ist sie nur sieben Monate. Heute sitzt sie wieder an ihrem Küchentisch in Asowo, unweit der sibirischen Metropole Omsk. „Deutschland war nicht meine Heimat“, sagt sie und knautscht ein Taschentuch in ihren Händen. „Ich habe es versucht. Aber ohne meine Familie konnte ich nicht sein.“

Ganz klein und schon nicht mehr so gut zu Fuß stand sie damals am Omsker Flughafen. Ihr Flug war kein Direktflug, in Moskau stieg sie um. Die großen Koffer gepackt mit dem Nötigsten, was man in der vielleicht neuen Heimat so gebrauchen könnte: Warme Sachen, die schöne rote Bluse, die Kittelschürze, der lange Rock, Bilder von der Familie. „Wir kommen nach“, haben die Kinder gesagt. Erna Karlowa wollte in Bayern auf sie warten. Dort, in der Nähe von München, blieb sie dann trotzdem allein. Die drei Söhne und ihre Tochter durften nicht einreisen. Sie sprechen kein Deutsch. Konnten, durften, wollten es nicht lernen.

Der Krieg

Mutter Korbmacher beherrscht noch, was sie in ihrer Kindheit gelernt hat. Bis zur fünften Klasse lebte sie mit ihren vier Geschwistern im Saratowskojer Oblast an der Wolga. Der Unterricht war auf Deutsch. Ihre Mutter sprach Deutsch mit den Kindern, die Kinder untereinander unterhielten sich nur in der Sprache ihrer Vorväter. Nicht in der des Landes, in dem sie lebten. Dann brach der Krieg aus, und Familie Korbmacher wurde nach Kasachstan umgesiedelt. 1937 war der Vater bereits gestorben.

Die Mutter überlebte den Krieg nicht. Die Kinder wohnten bei Fremden auf den Dachböden. „Eine schlimme Zeit war das, eine schlimme“, sagt Erna Korbmacher. Das muss reichen - sie will sich nicht weiter erinnern. Das Russische war den Geschwistern damals fast noch fremd, das Kasachische erst recht. Und Deutsch war verboten. Trotzdem auch Gutes: „Ich saß gern mit meiner Schwester auf der Bank vor dem Haus, und wir haben uns auf Deutsch unterhalten und überlegt, was wir schon alles vergessen haben“, sagt Erna Karlowa. „Wenn es uns wieder einfiel, mussten wir lachen.“

Später bekam sie selbst Kinder. Deutsch wollte sie mit ihnen reden. In der Schule wurden die Wolgadeutschen deswegen gehänselt. Ihr Ältester, Wladimir, beschwerte sich: „Mama, warum sprichst du Deutsch mit uns. Sie nennen uns Faschisten - lass das.“ Also ließ sie es. Heute sagt ihr Junge: „Mutter, warum hast du nie Deutsch mit uns geredet.“ Mittlerweile könnten sie die Sprache gut gebrauchen, wissen aber nur „bitte“ und „danke“, „guten Tag“ und „auf Wiedersehen“ zu sagen. Nimmt man es genau, so ist die alte Frau wieder zurück nach Russland gereist, weil außer ihr in der Familie niemand Deutsch spricht.

Heimweh
 
Es ging ihr nicht schlecht dort unten in Bayern. Sie hatte eine kleine Wohnung für sich. Sie lächelt und zählt auf: „Fließendes Wasser, warmes Wasser aus der Leitung. Die Sonne scheint oft, es ist dort nicht so kalt wie hier.“ Bequem und gemütlich. Und trotzdem wurde sie krank. Zuerst war es nur das Heimweh. Sie konnte nicht aufhören zu trauern, vermisste ihre Kinder. Dann ließ die Sehkraft auf dem linken Auge nach. Ein Nerv war gereizt. Später wurde noch eine Gallenoperation erforderlich. Erna Korbmacher verfiel immer mehr. Eines Tages sagte die Hausmeisterin zu ihrer Mieterin: „Wenn du nicht vorzeitig an Heimweh sterben willst, dann fahr doch zurück nach Hause.“

Und sterben wollte Erna Karlowa noch lange nicht. Nach sieben Monaten setzte sie sich wieder ins Flugzeug nach Omsk. Ihre Kinder holten sie ab. Sie wohnt wieder dort, wo sie mit ihrer Tochter und zwei Söhnen schon zehn Jahre lang gelebt hat: im kleinen blauen Häuschen an der Komsomolskaja. Gänse marschieren vor dem Tor entlang. Im Hof liegen Holzscheite gestapelt. Der Spätherbst hat sich bereits angekündigt. In den Blumenkübeln wachsen keine Blumen mehr. In der Diele köchelt das warme Wasser auf dem Herd.  „Ich habe versucht, dort zu leben, aber es ist einfach nicht meine Heimat“, sagt die alte Dame, so als wolle sie sich entschuldigen. „Aber wenn ich abends im Bett liege und die Augen schließe, dann bin ich in Deutschland.“ (Christina Wittich)

 
Ihre Meinung

Martin, 14.11.2007 19:36:00:

Der Artikel ist interessant, jedoch ist das Thema überproportional in den Medienberichten über Russlanddeutsche vertreten. Es ist sozusagen der neue Trend, dass man in den Medien schreibt, dass die Deutschen aus Russland kein zu Hause finden können in Deutschland. Anstatt Menschen in Deutschlad über die Kultur der Russlanddeutschen aufzuklären, versucht man sie als Fremdkörper darzustellen. Die \"Mischung aus Bayrisch und Jiddisch\" ist eigentlich ein altes Schwäbisch, was man heute noch in ländlichen Regionen in Südwestdeutschland erleben kann, wenn man die Augen und Ohren aufmacht (was die wenigsten tun). Meine Großeltern hatten dies noch gesprochen, ich kann es auch, und ich komme nicht aus Russland. Auch der Satz \"Ihre Söhne konnten, durften, wollten es (deutsch) nicht lernen.\" ist ein stilistisches Mittel. Es ist eine Steigerung, die man gerne als schriftliches Mittel einsetzt, um die Meinung des Autors zu betonen. Auch erkenne ich in letzter Zeit öfter eine Tendenz, die Deutschen aus Russland \"tot zu schreiben\", d.h. es gäbe sie nicht mehr, oder sie seien schon weg, oder ihre Deutschkenntnisse seien so schlecht, dass man sie nicht als Deutsche bezeichnen könne. Ist da der Wunsch auch zum Teil tragender Gedanke? Ich hoffe nicht. Kann denn jeder Italo-Amerikaner perfekt italienisch, oder jeder Grieche aus Kasachstan perfekt griechisch? Ich denke, dass Minderheiten, egal welche, das Recht auf das Überleben und die Förderung ihrer zum Teil bedrohten Kultur haben. Das heisst wiederum nicht, dass sie Fremdkörper sind, oder sie kein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn haben können, ganz im Gegenteil. Zudem sollte auch die Gesellschaft Basiswissen über diese Menschen, und nicht nur negativ voreingenommenes, haben. Fragen Sie Menschen, was sie über die Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen wissen, und es wird nicht viel dabei heraus kommen. Solange sich Schulen, Staat, Medien und die Gesellschaft nicht um die Kulturen, die in ihr leben kümmern und aufklären, solange werden auch resistente Vorurteile bestehen. Von nichts kommt eben nichts. Und Vorurteile bzw. mangelndes Verständnis aufgrund mäßiger Aufklärung kreieren eine Atmosphäre, die eben ein Heimat- oder Daheimsein Gefühl nicht leichter machen. Aber wie im Falle der Russlandgriechen in Griechenland, ist es auch möglich, den Russlanddeutschen positiv gegenüber zu stehen, gegeben dem Falle man will es. Auf alle Fälle wünsche ich Frau Korbmacher alles Gute.


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