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Station Hoffnung

In Deutschland könnte Wladimirs Leben gerettet werden
Station Hoffnung Wladimir bei einer ersten Untersuchung in der Brandenburgklinik
Foto: Jan Zappner

Berlin (ORNIS) - Olga Bletko rutscht nervös auf dem Sofa hin und her. Das Reden fällt ihr schwer. „Ich glaube, dass Wladimir sterben wird“, sagt sie mit leiser Stimme. Ärzte in Minsk haben bei ihrem Sohn einen kinderfaustgroßen Tumor am Kleinhirn festgestellt. Zu groß oder zu kompliziert für eine Operation in Belarus. Deshalb setzt Olga ihre letzte Hoffnung auf deutsche Ärzte. Eine Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) soll zeigen, ob Wladimir operiert werden kann.

Eingeladen wurde der 13-Jährige vom Berliner Verein ‚Hilfe für krebskranke Tschernobylkinder e.V.’. Seit elf Jahren ermöglicht er Kindern und Jugendlichen einen vierwöchigen Aufenthalt in der Brandenburgklinik in Wandlitz, unweit von Berlin. Fälle wie der von Wladimir sind allerdings eher selten. Die meisten Kinder sind nicht mehr akut gefährdet, wenn sie  nach Wandlitz kommen. „Den Ärzten in Minsk war ein Eingriff zu heikel, deshalb haben wir ihn zu uns geholt“, sagt Kerstin Lieber, Vorsitzende des Vereins und Oberärztin der onkologischen Kinderabteilung. So was könne vorkommen, obwohl die Krebsklinik „Borowjani“ bei Minsk ausreichend ausgestattet sei. Manchmal müssten die Ärzte dort ihre Kräfte auf aussichtsreichere Fälle konzentrieren. Lieber: „In solchen Momenten bin ich froh, helfen zu können.“

Von der Aufregung um seine Person bekommt Wladimir nichts mit. „Mir geht es gut“, sagt er in holprigem Deutsch. Sein bleiches Gesicht ist gezeichnet vom Tumor. Das eine Auge ist fast vollständig nach oben gerichtet. „Kinder gehen viel offener mit einem möglichen Tod um“, sagt Lieber. Olga können diese Worte jedoch nicht überzeugen. Dafür hat sie zu lange schon Todesangst um ihren Sohn. Und diese Angst lähmt sie, ihm die Wahrheit zu sagen.

Fast 700 Kindern hat der Verein seit 1985 vorwiegend aus Belarus nach Deutschland einladen. Jeden Monat kommt eine neue Gruppe von zehn  Kindern mit ihren Müttern. Auf dem weitläufigen Gelände der Brandenburgklinik finden sie fast alle medizinischen Einrichtungen, die sie zur Rehabilitation benötigen. Die Kosten der Behandlung trägt der Verein. Jedes Jahr werden 400.000 Euro durch Spenden eingenommen. „Dabei geht jeder Euro direkt in die Versorgung der Kinder“, erläutert Kerstin Lieber die hohe Spendenbereitschaft.

Ob eine Verbindung zwischen dem Unglück in Tschernobyl und Krebserkrankungen besteht, ist bis heute umstritten. Verlässliche Zahlen gibt es auch 20 Jahre nach der Katastrophe nicht. „Weniger als 50 Tote“ seien direkt auf die Strahlung zurückzuführen, behauptete das Tschernobyl-Forum im September 2005. Ein Mitglied dieses Forums ist die Internationale Atomenergiebehörde – eine Uno-Organisation, die sich in ihrer Präambel der Förderung der friedlichen Nutzung von Atomenergie verschrieben hat. Vor allem die „psychische Gesundheit der Bevölkerung“ hätte gelitten, räumt der Schlussbericht ein.

Für unabhängige Institute sind diese Ergebnisse eine bewusste Verharmlosung, die auch im Widerspruch zu früheren Untersuchungen stehe. Das Otto Hugh Strahleninstitut in München beispielsweise unterhält in Gomel, dem am schlimmsten betroffenen Gebiet in Belarus, ein Schilddrüsenzentrum und kommt zu anderen Ergebnissen. Nachweislich hätten die Krebserkrankungen deutlich zugenommen. Bei weißrussischen Kindern trete Schilddrüsenkrebs 30 Mal häufiger auf als vor dem Unglück.

Kerstin Lieber hält sich aus diesen politischen Streitigkeiten seit einigen Jahren raus. Zu viel Energie hat sie in fruchtlose Diskussionen gesteckt, die sie effektiver bei der Behandlung der Kinder einsetzen kann. Den Ergebnissen des Tschernobyl-Forums steht sie misstrauisch gegenüber. Zwar könne sie nicht nachweisen, dass ihre Patienten als direkte Folge von Tschernobyl erkrankt seien, das sei ihr aber auch nicht wichtig. „Ich mache das, was ich als Ärztin am besten kann: Kindern helfen!“

Sie weiß, was die Angehörigen von Strahlenopfern, insbesondere die Frauen, durchmachen. „Ihre Männer sind mit der Krankheit der Kinder überfordert und wegen ihres Alkoholkonsums nicht selten eine doppelte Belastung“, erzählt sie. Manchmal verweigern Mütter die Einwilligung zur Operation, obwohl sie damit das Todesurteil ihres Kindes unterschreiben. Im persönlichen Umgang muss die Ärztin dann viel Fingerspitzengefühl zeigen. Da erweist sich als Vorteil, dass sie russisch mit den Frauen sprechen kann: „Zwei Stunden habe ich auf Olga eingeredet, ihr erklärt, dass noch Hoffnung besteht, dass sie Wladimir nicht aufgeben darf“.

Wladimir steht in der Turnhalle und schlägt einen Hockeyball immer wieder gegen die Wand. Sein Oberkörper bleibt dabei fast bewegungslos, seine Bewegungen wirken abgehackt. Selten trifft er den Ball, da das eine Auge blind ist. Ehrgeizig läuft er dann den verfehlten Bällen hinterher und drischt sie wieder gegen die Wand. Für ihn und die anderen Kinder ist es Sport, für die Physiotherapeutin Training der Grobmotorik. Es ist ein Teil des Puzzles, das Wladimir jeden Tag zusammenlegen muss. Mit Konditionstraining und Feinmotorik soll er seine Leistungsfähigkeit entdecken und selbständiger werden. Theoretisch. Praktisch macht es Wladimir einfach großen Spaß „seine Kraft zu spüren und den lauten Knall zu hören.“

Fünf Tage später sind die Ergebnisse der Untersuchung eingetroffen. Schicht für Schicht wurde Wladimirs Kopf durchleuchtet und in 39 Bildern festgehalten. Die hängen jetzt auf der Durchlichteinheit im Besprechungszimmer. Ganz deutlich zeichnet sich eine große, weiße Kugel  in Wladimirs Hinterkopf ab. „Gute Nachrichten!“ Mit einem Lächeln begrüßt Kerstin Lieber die Mutter. Der Tumor ist kaum durchblutet. Damit steht fest, dass eine Operation durchgeführt werden kann. Olga sitzt kerzengerade und blickt skeptisch. Ihre Hände haben sich ineinander verkrallt. Ihrem Gesicht ist keine Erleichterung oder Freude anzusehen. Sie denkt wohl schon an den nächsten Schritt: gemeinsam mit ihrem Mann die Entscheidung für oder gegen eine Operation zu treffen. Also wieder zurück nach Minsk.

Wladimir bekommt davon nichts mit. Er wartet draußen und kommt erst später hinzu. „Auf Wiedersehen!“, grüßt er zum Abschied und weiß gar nicht, wie sehr er Kerstin Lieber damit aus dem Herzen spricht. „Hoffentlich!“, seufzt sie und winkt ihm hinterher. (© ORNIS/Jan Zappner, 25. April 2006)


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Links zum Thema
- Brandenburgklinik
- Der Strahlenpysiker Sebastian Pflugbeil zum Tschernobyl-Forum

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