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Noch immer sind nicht alle Archive geöffnet

Gedenken an die Verschleppung der Russlanddeutschen
Noch immer sind nicht alle Archive geöffnet Foto: ORNIS

Gerade zwei Generationen liegt das schreckliche Geschehen zurück, das mehrere hunderttausend Menschen den Tod gebracht hat. Die Überlebenden quälen lebenslange Erinnerungen. Im Gedenken an die Deportation der Russlanddeutschen vor 67 Jahren sind am vergangenen Wochenende rund 300 Menschen vor dem Berliner Reichstag zusammengekommen.

Berlin, im August 2008 – „Die Verfolgung und Vertreibung der Deutschen
aus ihren Wohngebieten in der ehemaligen Sowjetunion gehört zu den brutalsten Taten der Stalin-Diktatur im vergangenen Jahrhundert.“ Der Satz aus der Grußbotschaft des kasachischen Botschafters in Berlin war Erinnerung und Mahnung zugleich. Zum 67. Mal jährte sich am 28. August der folgenschwere Erlass der sowjetischen Regierung aus dem Jahr 1941, die deutsche Bevölkerungsgruppe der Wolgaregion und später auch anderer Gebiete zu deportieren und Hunderttausende durch Zwangarbeit zu vernichten.

Der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung Christoph Bergner unterstrich denn auch vor rund 300 Teilnehmern die besondere Verpflichtung Deutschlands gegenüber der deutschen Bevölkerungsgruppe in Russland und der Russlanddeutschen, die als Aussiedler nach Deutschland kommen. Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, die Rache Stalins an der deutschen Minderheit im Land, Verfolgung und Diskriminierung bis weit über das Kriegsende hinaus: „Diese Untaten dürfen nicht hinweg geweht werden.“ Bergner weiter: „Während Europa allmählich aus den Trümmern des Kriegs den Weg suchte, wurden die Russlanddeutschen weiter wie Verbrecher behandelt.“

Zeitzeugin Frida Bozedomova

Zu dieser Zeit kämpften über 300.000 Frauen und Männer in der so genannten Arbeitsarmee um ihr Überleben. Nur Wenige haben es geschafft. Eine von ihnen ist die heute 85-jährige Frida Bozedomova, die viele Jahre später in Baden-Württemberg eine neue Heimat gefunden hat: „Mich verfolgt bis heute der Brandgeruch, ich sehe die vom Tod gezeichneten Freunde und noch Lebende, denen aber der Tod schon in den Augen stand. Der Kohlenstaub sitzt bis heute noch in meinem Körper.“

Die Dimension des Leids ist bis heute nicht vollständig aufgedeckt. Der Aussiedlerbeauftragte stellte in seiner Gedenkrede fest: „Noch immer gibt es keine amtliche Statistik, die das Leid der Russlanddeutschen dokumentierte.“ Doch die bislang bekannt gewordenen Daten sprechen eine eigene Sprache. Bergner: „Für deutsche Sowjetbürger war das Risiko oder die Wahrscheinlichkeit, in dieser Zeit verurteilt zu werden, sechs Mal höher als in der allgemeinen Sowjetunion, und erschossen zu werden sogar zehn Mal höher.“

Auszüge aus ausgewählten Grußworten
PDF-Dokument

In einer ersten Deportationswelle waren im September 1941 knapp 450.000 Menschen aus der damaligen Autonomen Wolgarepublik nach Kasachstan und Sibirien deportiert worden. Der Göttinger Historiker Alfred Eisfeld fasste die Folgen des Regierungserlasses zusammen: „In drei Wochen hat man eine über 200-jährige Siedlungsgeschichte kaputt gemacht und versucht, dieses aus dem Gedächtnis der Bevölkerung auszuradieren.“ Insgesamt, so geht aus bislang zugänglichen Archivdaten hervor, sind bis zum Kriegsende über 1,2 Millionen Deutsche zwangsumgesiedelt worden, darunter viele, die mehrfach verschleppt wurden.

Als nach dem Tod Stalins für die Deportierten - neben den Russlanddeutschen auch andere Bevölkerungsgruppen – eine allmähliche Lockerung des Zwangsregimes begann, hieß das für die Russlanddeutschen allerdings auch: eine Rückgabe des konfiszierten Vermögens war ausgeschlossen; eine Rückkehr in die ursprünglichen Heimatgebiete blieb verboten. Eisfeld kam in seinen Betrachtungen zu dem Schluss, die langfristige Folge des Deportationsbeschlusses der sowjetischen Regierung sei „eine Bevölkerungsverschiebung von West nach Ost (gewesen), der ersatzlose Wegfall sämtlicher Bildungs- und Kultureinrichtungen und ein Absenken des allgemeinen Bildungsniveaus der Russlanddeutschen“.

Zu der Gedenkveranstaltung im Schatten des Berliner Reichstags am 30. August hatten die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und die russlanddeutsche Organisation „Heimat“ gemeinsam eingeladen. In einer Resolution, die zur Unterschrift auslag, setzten sich die Veranstalter für die Errichtung eines Mahnmals in Berlin ein, das an die Verfolgung und Vertreibung der Deutschen in der Sowjetunion erinnern soll.

Zugleich bedauern die Verfasser, dass eine „faktische Rehabilitierung“ der Russlanddeutschen in Russland und anderen Nachfolgestaaten der UdSSR immer noch ausstehe. Die Unterzeichner der Resolution kritisieren auch, dass das seit drei Jahren geltende Zuwanderungsgesetz die Einreise von Spätaussiedlern enorm gemindert habe. Das sei unvereinbar mit der gleichzeitigen „Anerkennung des kollektiven Kriegsfolgenschicksals der Deutschen aus Russland“.

„Das Kriegsfolgenschicksal der Russlanddeutschen hat auch weiterhin Bestand, und es ist auch noch im Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung in der ehemaligen Sowjetunion präsent. Zu meinem großen Bedauern muss ich feststellen, dass man dieses von der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland in diesem Maße nicht sagen kann.“


Dr. Alfred Eisfeld
Vize-Direktor des Nordost-Instituts
an der Universität Hamburg

Auf aktuelle Fragen der Aussiedlerpolitik ging auch Christoph Bergner zum Schluss seiner Rede ein. Im Blick auf die fehlende Anerkennung beruflicher Abschlüsse und Qualifikationen sowie den Umstand, dass viele Aussiedler unterqualifizierten Tätigkeiten nachgehen müssen, stellte er in Aussicht, diesen Missstand möglichst im kommenden Jahr lösen zu können. Erschwerend kommt hinzu, dass hierbei auch Regelungen im Rahmen der Europäischen Union berücksichtigt werden müssen.

Auch bei der Familienzusammenführung erwartet Bergner Erleichterungen und setzt auf die individuelle Regelung von Härtefällen. Die Möglichkeit eines gemeinsamen Aufnahmebescheides (Kriegsfolgenbereinigungsgesetz) hat zuweilen dazu geführt, dass Familienmitglieder bei der Ausreise nach Deutschland rechtlich unterschiedlich behandelt wurden und dadurch die Aufnahme in Deutschland in manchen Fällen unmöglich wurde. (bg/us)

Audiobeitrag zum Thema
Rede von Dr. Christoph Bergner (Auszug/8,5 Min./6,75 MB)

Zeitzeugin Frida Bozedomova (Auszug/3 Min./2,67 MB)

Beitrag von Dr. Alfred Eisfeld (Auszug/7.5 Min./5,9 MB)

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Gedenkfeier 2008

 
Ihre Meinung

Martin, 27.09.2008 21:31:28:

Die Geschichte aller Bevölkerungsgruppen ist Teil des kollektiven Gedächtnisses jeglicher Region der Erde.Auch Russlanddeutsche haben das Recht,ihre Geschichte,Traditonen&Gegenwart zu pflegen.Die Verfolgung,Deportation,Zwangsarbeit,Diskriminierung,&zaghafte Rehabilitation der Russlanddeutschen ist Geschichte,der mehr Aufmerksamkeit gebührt.Auch in Gegenwart könnte mehr Unterstützung stattfinden.

Aneli, 13.09.2008 17:59:53:

Dieser Artikel ist sehr informativ und ein wichtiger Beitrag zur Geschichte und Gegenwart.


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Zeitzeugen

„In der letzten Nacht
vor der Deportation
schlief die Stadt nicht.“

Gottlieb Eirich
hat die Verschleppung
der Deutschen
in Engels erlebt,
der Hauptstadt der bis dahin
Autonomen Wolgarepublik.

Heute lebt der 83-Jährige
in Schweinfurt.

Die Erinnerung ist das einzige Paradies (PDF)


Zum Nachlesen ...

 

Rede Dr. Christoph Bergner (pdf)

Zeitzeugin Frida Bozodemova (pdf)

Vortrag Dr. Alfred Eisfeld (pdf)

 

 

... und zum Nachhören

siehe "Audiobeitrag zum Thema" unter der Textseite