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Clubdisco mit Gästen - Russlanddeutsche Jugendliche im Berlin

Serie Teil 2

Berlin (ORNIS) - Mit einer vierteiligen Serie gibt ORNIS einen Einblick in den Alltag von Aussiedlern, die aus Russland oder Kasachstan nach Deutschland kommen. Der zweite Teil berichtet von jungen Aussiedlern, die in Berlin einen Weg gefunden haben, Verbundenheit untereinander zu stärken und zugleich Kontakte zu Gleichaltrigen aus anderen Ländern zu knüpfen.


Eigentlich kann man den Eingang nicht verpassen, auch wenn das Haus hinter einer Tordurchfahrt im Hinterhof liegt. Ein künstlerisch gestalteter Schriftzug "Wille" weist dem Besucher den Weg - vorbei an einer Mauer mit bunten Graffiti, einem Kinderhort mit bemalten Fenstern und einem wenig einladenden Müllcontainer. "Wille" heißt die Organisation, die sich um soziale Belange im Stadtteil kümmert, und "Wille" heißt auch das Café, in dem sich tagsüber junge Leute aus der Umgebung treffen. Berlin-Kreuzberg, Wilhelmstraße 115 - der Straßennamen hat Pate gestanden, als es darum ging, dem Café und der Organisation einen Namen zu geben.

Dem Gebäude mit der halbrunden Fassade, den hohen Fenstern, zwei seitlichen Eingängen und dem großen Vorplatz ist anzusehen, dass der Stadtteil einmal bessere Zeiten erlebt hat. Als Jugendstätte der evangelischen Dreifaltigkeits-Gemeinde lag das Haus vor dem Krieg inmitten des Berliner Diplomatenviertels. Nach Krieg und Mauerbau verlor die Gemeinde den größten Teil ihrer Mitglieder an den Osten, Kreuzberg verlor seinen guten Ruf und verfiel zu einem sozialen Brennpunkt. Heute leistet hier die Organisation "Wille" Beratungs- und Sozialarbeit, das gleichnamige Jugendcafé bietet Raum für Freizeittreff und Kennenlernen.

Eine Zeitlang fand in den oberen Räumen des Hauses auch Deutschunterricht für Aussiedler statt. So kam es, dass vor knapp fünf Jahren eine Gruppe von Jugendlichen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland auf das Café aufmerksam wurde. Die 30 jungen Leute waren auf der Suche nach Räumen, in denen sie regelmäßig zusammenkommen konnten, um miteinander zu reden, ihre Freizeit gemeinsam zu verbringen, Feste zu feiern. Leicht war es offenbar nicht, die Betreiber des Jugendcafés davon zu überzeugen, dass russlanddeutsche Jugendliche auch nicht anders sind als andere junge Leute, dass ihre Zusammenkünfte nicht in Schlägerei und Alkoholexzessen enden müssen.

Anfangs herrschte ein ziemliches Misstrauen, erzählt Albina Zizer, damals 23 Jahre alt und erst wenige Monate in Deutschland. Seither hat sie kaum ein Treffen in der "Wille" verpasst, obwohl sie über eine Stunde entfernt im Stadtteil Spandau wohnt.

Schließlich erhielt die Gruppe die Zusage, den Freitag Abend in geschlossener Runde in der "Wille" zu verbringen. Man vereinbarte eine kleine Monatsmiete, und das Café wurde binnen kurzem zum Treffpunkt von rund 40 jungen Leuten aus russlanddeutschen Familien im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Als aufwändig und schwierig erwies sich bald, jede Zusammenkunft so gut vorzubereiten, dass sie für alle Teilnehmer attraktiv und spannend blieb. Albina Zizer, die gemeinsam mit anderen die Initiative zu den Treffen ergriffen hatte, regte daher an, Musikabende zu veranstalten. Und Rainer Hennekes hatte die Idee, Musikgruppen - Bands - im Café auftreten zu lassen. Der Religionspädagoge ist Mitarbeiter der Organisation "Wille". Zwar sei es ein Unglück gewesen, sagt er, dass das Café vor drei Jahren ausbrannte, immerhin habe das jedoch Gelegenheit geboten, beim Wiederaufbau eine Bühne einzurichten, wo russlanddeutsche Bands mit exotisch klingenden Namen wie "Memories", "Flying Octopus", "Scavenger" auftreten und wo die heute 18-jährige Punk-Rock-Sängerin Julia Grauberger erste Erfolge feierte.

Musik verbindet - und bald wurde aus der geschlossenen russlanddeutschen Veranstaltung ein offener Treff, zu dem junge Türken und Araber und Berliner aller Hautfarben kommen. Manche stammen aus Kreuzberg, die meisten aber nehmen lange Anfahrten in Kauf, um am Freitagabend zur "Clubdisco" im Café zu sein. Die Bezeichnung trifft nach Meinung von Albina Zizer allerdings nicht ganz zu. Vielmehr ist das Café freitags zugleich Informationsbörse und Beratungszentrum. Jugendliche, die in der Schule oder am Ausbildungsplatz, in der Familie oder im Umgang mit Gleichaltrigen kleinere oder auch größere Probleme haben, erhalten hier zuweilen einen guten Rat oder einen Hinweis, wo man sich Hilfe holen kann.

Und auch Rainer Hennekes ist froh, dass die Initiative der russlanddeutschen Jugendlichen zum festen Programmteil des Treffpunkts geworden ist. Er ist sogar der Meinung, dass "die Wille das einzige Café seiner Art" weit und breit ist, wo junge Leute unterschiedlicher Herkunft konfliktfrei zusammentreffen. Und Albina Zizer fügt hinzu, der Erfolg des Treffpunkts liege vor allem darin begründet, dass Jugendliche ohne Anleitung durch Behörden, Sozialarbeiter oder andere selbst die Initiative ergriffen und das Projekt entwickelt haben. Knapp zwei Drittel der rund 150 jungen Leute, die freitags ins Café kommen, stammen aus der ehemaligen Sowjetunion.

Dabei war anfangs niemand sicher, dass das multikulturelle Experiment glücken werde. Zur Vorsicht hatte man erst einmal Mitgliedskarten ausgegeben, um sicher zu sein, dass nur Jugendliche ins Café kamen, die nicht durch rüpelhaftes Benehmen auffielen. Zwar gibt es bei den Disco-Abenden auch Alkohol, aber mitgebracht werden dürfen alkoholische Getränke nicht. Drogen sind verpönt - ebenso wie russische Musik. Albina Zizer erklärt das damit, dass manche Texte und manche Titel russischer Discomusik Jugendliche ins Café ziehen könnte, auf die man lieber verzichten möchte.

Auch für sie ist der Freitagabend zu einem wichtigen Fixpunkt in ihrem Alltag geworden. Als sie vor sechs Jahren nach Deutschland aussiedelte, hatte sie gerade ihr Studium der Germanistik an der Universität von Barnaul beendet. In Podsosnowo, ihrem Heimatort im Deutschen Nationalen Rayon Halbstadt, hatte sie von Kind an deutsch gesprochen, und als Studentin in Barnaul entschloss sie sich, auch ohne Eltern und Geschwister nach Deutschland auszureisen. Dass ihr Universitätsabschluss in Deutschland nicht anerkannt würde, wusste sie. Inzwischen hat sie in Berlin ein Pädagogikstudium absolviert und beschäftigt sich mit Psychologie, um demnächst mit drogenabhängigen russlanddeutschen Jugendliche zu arbeiten.

Konflikte mussten in der Anfangszeit durchaus häufiger bewältigt werden. Einerseits wollte man einen für alle offenen Treff, andererseits erforderte die Fürsorgepflicht der Betreiber, dass junge Leute sich ungefährdet in den Räumen der "Wille" aufhalten konnten. Das erforderte zuweilen Fingerspitzengefühl, sagt Albina Zizer; dann nämlich, wenn es darum ging, aufsässigen und streitsüchtigen Jugendlichen klar zu machen, dass das Café kein Ort für Auseinandersetzungen ist.

Das Konzept ging auf: Inzwischen wirft die Clubdisco sogar Gewinn ab, so dass die Musiker eine Gage erhalten können und hin und wieder Geld übrig bleibt, mit dem die technische Ausstattung verbessert wird. 19 Uhr ist Einlass - 23 Uhr schließt das Café, dann haben die meisten noch einen langen Heimweg vor sich.

 
Links zum Thema
Homepage jugendlicher Aussiedler
Deutsche Jugend aus Russland, Landesgruppe Berlin

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