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Borschtsch, Botschkarov und der Blues der Russen

Unter russlanddeutschen Fußballfreunden
Borschtsch, Botschkarov und der Blues der Russen

Für welche Mannschaft schlägt das russlanddeutsche Herz? Nicht auszudenken, wenn Deutschland und Russland im Finale der Europameisterschaft aufeinander getroffen wären. Ralf Piorr verbrachte das Halbfinalspiel Russland gegen Spanien im „Taschkent“. Olga und Alexander Hock führen das Restaurant in der Revierstadt Herne und bieten ihren Gästen Speisen ihrer früheren Heimat Usbekistan.

Herne, im Juni 2008 - „Es ist entschieden“, verkündet Alexander Hock nach der Halbfinal-Niederlage der Sbornaja gegen Spanien lauthals im Restaurant. „Wir fahren nach Königsberg und nicht nach Spanien in den Urlaub. Die mögen gewonnen haben und im Finale stehen, aber einen Touristen haben sie verloren“, fügt er hinzu und kann sich selbst angesichts der verdutzen Gesichter um ihn herum das Grinsen nicht ganz verkneifen. Aber Alexander, dessen Sohn Alexander heißt und dessen Vater und Großvater auch schon Alexander hießen, ist es völlig Ernst damit.

Jedenfalls in diesem Moment, denn er hat neunzig Minuten gelitten: „Was macht ihr da?“, „Nein, nein!“, „Nach vorne spielen!“, „Jetzt aber, jetzt aber!“ hatte er seine Mannschaft immer wieder impulsiv angefeuert, aber sein Flehen hatte keinen Erfolg. „Noch nicht einmal ein Tor“, kommentiert er resigniert den Schlusspfiff. Während er die russische Fahne, die er vor dem Restaurant noch Stunden zuvor feierlich gehisst hatte, langsam einholt und sorgfältig zusammen faltet, flackern die Bilder der feiernden spanischen Spieler über den großen Fernsehmonitor.

Seine Frau Olga hatte fast den ganzen Abend über in der Küche gestanden und die Gäste versorgt. Es gab Borschtsch, Solyanka, Vareniki und Pelmeni. Alles hausgemacht. Dazu Botschkarov, ein herbes russisches Bier. „Ich habe ab und an ein wenig geguckt, aber für Fußball interessiere ich mich nicht so. Ein Fußball-Verrückter reicht in der Familie“, sagt sie und zeigt blinzelnd auf ihren Mann. Unser Glück, denn das vorzügliche Essen lässt das enttäuschende russische Spiel vergessen. Nicht Arshavin glänzt mit seinen Dribblings, sondern Olga mit ihren Blinis.

Alexander Hock und Sohn Alexander
Foto: Ralf Piorr

Das „Taschkent“ funktioniert als klassisches Familienrestaurant. Olga und Alexander Hock, die 1993 aus der einem Dorf in der Nähe der usbekischen Hauptstadt Taschkent als Spätaussiedler nach Herne kamen, gründeten das Geschäft vor etwa einem Jahr. Olgas älterer Bruder Anatol singt am Samstagabend, wenn sich viele Deutsch-Russen in der Gaststätte zu einem gemeinsamen Abend treffen, russische Lieder. „Unsere Seele braucht das“, bekennt Olga Hock lachend. Ihr jüngerer Bruder Inokenti, Jahrgang 1989, kam mit fünf Jahren nach Deutschland. Er kennt die alte Sowjetunion nur noch aus dem Geschichtsunterricht. „Das Bekenntnis zum Heimatland ist während einer Europameisterschaft okay, aber ansonsten frage ich in meinem Freundeskreis nicht nach der Nationalität. Was soll das bringen?“, äußert er und zupft etwas schüchtern an seinem deutsch-russischen Fan-Schal.

Zu diesem Halbfinale hat die Familie ein paar Freunde eingeladen. Darunter Juri Schmidt, der aus Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, stammt. Für ihn sind die russischen Erfolge des Jahres, Eishockey-Weltmeister, Sieger beim Grand Prix Eurovision und der UEFA-Cup-Triumph von Zenith St. Petersburg, Anzeichen dafür, dass die Zeit des „Wilden Ostens“ endlich vorbei sei. „Man redet hier in Deutschland immer von Abramowitsch, von Gazprom oder Putin, aber kannst Du dir vorstellen, was diese Erfolge für die einfachen Menschen dort bedeuten? Ein ganzes Land entwickelt wieder ein Selbstbewusstsein“, klagt er die einseitige Wahrnehmung in den deutschen Medien an.

Vor dem Spiel war seine Prognose eindeutig: „Unsere Mannschaft ist hungrig. Wir werden Europameister.“ Hinterher gesteht er etwas ernüchtert ein, dass der Fußball wohl doch nicht so einfach zu prognostizieren ist. „Die Spanier haben verdient gewonnen“, resümiert er kurz und knapp. Ob er enttäuscht sei, frage ich ihn. „Enttäuscht über unser Spiel heute, ja, aber nicht über den Auftritt bei der EM. Unserer jungen Mannschaft gehört wenigstens ein Stückchen der Zukunft.“ Den Beweis können Guus Hiddinks Mannen bereits im kommenden Oktober in Dortmund antreten, wenn sie in der WM-Qualifikationsgruppe 4 gegen die deutsche Elf spielen. „Gegen den Europameister“, wie Juri lächelnd hinzufügt.

Olga Hock mit Bruder Anatol Fichtner
Foto: Ralf Piorr

Am Ende des Abends müssen alle die eindeutige spielerische Überlegenheit der Spanier vor allem in der zweiten Halbzeit konstatieren und mit dem Erreichten zufrieden sein. Alexander sen. muss wohl noch etwas länger an dieser Erkenntnis arbeiten. Er schenkt mir die russische Fahne. „Danke, dass du den Abend mit uns verbracht hast“, sagt er. Olga Hock packt mir noch schnell ein paar Vareniki mit Quark ein: „Für morgen, in der Pfanne anbraten oder schmecken auch kalt“, gibt sie mir mit auf den Weg. Hat mich meine umtriebige Tätigkeit als EM-Blogger so abmagern lassen, dass ich schon mütterliche Instinkte wecke? Gemeinsam mit Juri Schmidt verlasse ich das „Taschkent“. Wir verabschieden uns, und er fährt mit seinem Auto los, an dem die russische und die deutsche Fahne im Fahrtwind wehen. (Ralf Piorr)

mit freundlicher Genehmigung
der Redaktion „Reviersport“

 
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