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Altai – Landflucht und Verarmung

Ausbau des Tourismus würde hohe Investitionen erfordern
Altai – Landflucht und Verarmung Anna Kaiser mit ihrem Mann und Sohn Bernhardt, der aus Deutschland zu Besuch gekommen ist
Foto: Tobias Zihn

Slawgorod (ORNIS) - Für Anna Kaiser ist Aljonka ihr wichtigster Besitz: „Eine Kuh deckt alle Armut zu“, sagt die 68-Jährige und bittet den Besucher auf ihren Hof. Dort wimmelt es von Enten und Hühnern, im Garten wachsen Tomaten, Gurken, Kartoffeln und natürlich Kapusta - Kohl. Anna Kaiser lebt mit ihrem Mann im Dorf Schumanowka im westsibirischen Altaiskij Krai. Die Russlanddeutsche spricht noch den badischen Dialekt ihrer Vorfahren. Das Gebiet in der Kulunda-Steppe zählt zu den ärmsten Regionen Russlands – immer noch Heimat vieler Deutschstämmiger, die der Deportationerlass Stalins vor über 60 Jahren hierher verschlagen hat.

Die Armut des Altai fällt sofort auf, wenn man die Regionsgrenze von der Nowosibirsker Oblast aus passiert. Die bis dahin ausgebaute Straße mündet in einen unbefestigten, von tiefen Schlaglöchern durchzogenen  Weg. Kilometerweit keine menschliche Ansiedlung - sibirische Einöde. Auf den riesigen Feldern wachsen Sonnenblumen, Mais und Getreide. Kaum höher als 50 Zentimeter, denn zum Reifen hat die Frucht im Altai gerade einmal von Ende Mai bis Ende August Zeit.

„Eigentlich ist das Gebiet nicht gut geeignet für die Landwirtschaft“, sagt Anna Kaiser, „zu heiß im Sommer, zu wenig Regen und viel zu viel Wind.“ Trotzdem ist der Agrarsektor der wichtigste Wirtschaftszweig der Region. Von den knapp 2,6 Millionen Einwohnern des Altai arbeiten nach offiziellen Angaben rund 700.000 Menschen in der Landwirtschaft.

Die Kolchosen und Sowchosen im Altai stecken jedoch in argen Finanznöten. Notwendige Reparaturen an Ställen und Getreidesilos bleiben aus, der Verfall ist offensichtlich. „Seit vier Monaten habe ich meinen Lohn nicht mehr bekommen“, klagt Anna Kaiser, die - längst im  Rentenalter - noch immer als Melkerin in der Karl-Marx-Kolchose in Schumanowka arbeitet. „Die Kolchose bezahlt uns in Naturalien: ein Sack Futter für die Tiere zuhause, etwas Brot.“ Ohne ihre Nebenwirtschaft könnte Anna Kaiser mit ihrem Mann Karl kaum überleben. „Der Garten und die Tiere ernähren uns den ganzen Winter hindurch“, sagt sie. Heute sind die Regale in den Geschäften gut gefüllt, doch den meisten Menschen fehlt das Geld. „Kartoschka und Kapusta stehen oft auf unserem Tisch.“

Ein großes Problem für den Altaiskij Krai ist, dass anhaltend viele Menschen abwandern. „Die Russlanddeutschen gehen noch immer überwiegend nach Deutschland. Ganze Dörfer sind verlassen worden“, sagt Anna Kaiser. Auch ihre eigenen drei Kinder sind schon vor Jahren mit ihren Familien ausgewandert. Nennenswerte berufliche Perspektiven für junge Leute gibt es nicht. Viele versuchen nach dem Schulabschluss, einen Studienplatz an der Altaier Staatlichen Universität in der Gebietshauptstadt Barnaul oder in Nowosibirsk zu bekommen. Wem das glückt, der kehrt nach der Ausbildung selten wieder zurück ins Dorf. Die Arbeitslosigkeit außerhalb Barnauls ist dramatisch hoch. In Slawgorod beispielsweise, einer Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern an der Grenze zu Kasachstan, beträgt sie inzwischen 66 Prozent. „Viele Menschen verzweifeln“, sagt Anna Kaiser. „Besonders die Männer, die doch ihre Arbeit brauchen, geben auf. Die meisten geben sich dem Suff hin.“

Die Gebietsverwaltung in Barnaul hat indes Pläne mit dem Altai. Den Tourismus will sie nach vorne bringen, und in der Tat hat die Region einiges zu bieten in Sachen Erholung. In den Landkreisen Slawgorod und Burla sowie im Deutschen Nationalen Rayon gibt es Salzseen in unberührter Natur. Der Salzgehalt ist dort so hoch, dass ein Schwimmer wie im Toten Meer nicht versinken kann. Der Schlamm der Seen besitzt offenbar Heilwirkung, soll bei Hautkrankheiten und Rückenproblemen helfen. Das hat Anatolij Kropow, Bürgermeister der Stadt Slawgorod, bereits untersuchen lassen.

„Daraus müssen wir Kapital schlagen“, sagt er und malt aus, dass später einmal Moskauer, St. Petersburger, Nowosibirsker und andere gestresste Städter sich im Altai gesund kuren. Anna Kaiser ist da eher skeptisch: „Naja, das will ich erst einmal sehen. Im Winter ist es hier viel zu kalt und im Sommer viel zu heiß. Das tut sich keiner freiwillig an“. Außerdem, wie sollen die Touristen denn hier hinkommen? Da muss man erst einmal vernünftige Straßen bauen und Hotels. Wo soll denn das Geld dafür herkommen?“ Auf jeden Fall würde Anna Kaiser die Gäste herzlich willkommen heißen, und ein Glas frischer Milch von Aljonka wäre gewiss immer drin. (© Tobias Zihn/ORNIS, 24. Oktober 2005)


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